Als der Mais noch ‚Tirggen‘ hieß

Es ist die kurze Geschichte einer langen Liebe, die sang- und klanglos zu Ende geht: die der Tiroler zum ‚Tirggen‘. Aus dem einstigen Grundnahrungsmittel und Retter in Zeiten drohender Hungersnöte ist ein schnödes, industriell angebautes Tierfutter geworden.

Wenn ich mit dem Zug nach Innsbruck fahre, sind sie allgegenwärtig: Die am Waggonfenster vorbeifliegenden Maisfelder. Nicht nur ihr Name hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Auch ihr Verwendungszweck wurde pervertiert. Der einst stolze ‚Tirggen‘ ist zu einer unangenehm säuerlich riechenden Silagepampe für Milchkühe verkommen. Einzig und allein deshalb, um den Zugriff der Lebensmittelindustrie auf billigste Milch zu gewährleisten. Erst mit der Mais-Pampe und dem Soja aus niedergebrannten Regenwäldern wird die Versorgung mit Milch und Milchprodukten zu Schleuderpreisen möglich. Denn wir müssen uns ja auch in Hinkunft weit wichtigere Dinge wie SUVs, Billigflüge, Handies oder PC-Spiele leisten können.

Tirggenpflanzen vulgo Mais in vollem Wuchs. Bild: wikipedia

Vom ‚Türkischen Weizen‘, dem Tirggen und dem Riebel

Als gebürtiger Rheintal-Vorarlberger habe ich einen besonderen Bezug zum ‚Türken‘, wie der Mais am Rhein genannt wird. Vermuteten doch unsere Vorfahren in Tirol und Vorarlberg, dass er aus der Türkei gekommen war, deshalb nannten sie ihn den ‚türkischen Weizen’ oder eben Tirggen oder Türken. Der ‚Riebel’ aus dem groben Mehl desselben ist mir, ich will es zugeben, des öfteren im wahren Sinn des Wortes ‚zum Hals heraus gehangen‘ und bisweilen ob seiner Trockenheit sogar im Hals stecken geblieben. Und dennoch trauere ich der Zeit nach, als mit dem ‚Tirggen’, bzw. den Maispflanzen noch keine Milchseen und Fleischberge erzeugt worden waren.

Maisfeld Glatzl Haiming
Eines der Glatzl’schen BIO-Tirggenfelder in Haiming.Bild: H. Glatzl

Der BIO-Hof Glatzl in Haiming, ein ‚letzter Mohikaner‘

Der BIO-Bauernhof der Haiminger Bauernfamilie Glatzl ist nicht nur für mich einer der ‚letzte Mohikaner‘ der alten ‚Tirggen-Kultur‘. Sie war jene bäuerliche Kultur, die immer darauf ausgerichtet war, die Versorgung auch in schlechten Zeiten sicher zu stellen. Dieses Festhalten an einer jahrhundertealten Tradition äußert sich auch in Produkten des BIO-Hofes Glatzl, die in Tirol beinahe schon unbekannt sind. Oder habt ihr schon von ‚weißem Tirggenmehl‘, ‚Ofen-Tirggenes‘ oder ‚Tirggennudeln‘ gehört? 

Vier Tirggenkolben mit sortenreinem Mais, rechts ein Hybridmais.

Der Tirggen im Tiroler Brauchtum

Es waren Kriege, Missernten, schwere Winter und die Teuerung, die das ‚türkische Korn‘ in den letzten Jahrzehnten des 17. Jhdt. zum Rettungsanker für die Bevölkerung machte. Über den Reschenpass waren die Maiskörner von Italien aus nach Tirol gekommen. Zuerst wurde das neue Getreide mit Argwohn betrachtet, kaum jemand wollte es in größerem Stil anbauen. In den kleinen Hausgärten der Pfarrer und von Bauernhöfen indes wurden erste Maispflanzen gezogen. Erst um 1650 begann dann ein Anbau in größerem Stil. Das war auch der Beginn jenes Brauchtums, das wir in einzelnen Dörfern Tirols noch heute kennen. Die Tiroler Fasnacht ohne Flitschelar, Türggelar oder Peaschtl ist kaum vorstellbar.

‚Peaschtl passn‘ in Brixlegg: Die aus tausenden ‚Bratschn‘, den Maisdeckblättern gebaute Kleidung ist aus der Tiroler Fasnachtskultur nicht wegzudenken.

Die Volkskundlerin meines Vertrauens und Dirketorin des wunderbaren Augustinermuseums in Rattenberg, Dr. Petra Streng, führt die Verwendung der Flitschelen in der Fasnacht übrigens darauf zurück, dass ‚damit etwas Neues möglich geworden war‘. Neben all den bereits existierenden, teils uralten Fasnachtsfiguren war plötzlich die Kreation einer neuen ‚Identität‘, die Schaffung einer neuen Figur möglich. Denn Flitschelen, die Schalen der Maiskolben, fielen ab dem beginnenden 18. Jahrhundert in Massen an. Übrigens werden die Flitschelen im Unterland Bratschen genannt.

Das berühmte Peaschtl laffen in Breitenbach am Inn am 5. und 6. Dezember jeden Jahres. Die Peaschtl sind in der dicken Bratschen-Polsterung unterwegs.

Tirggen am Speiseplan der Bauernfamilien

Nicht nur das Brauchtum wurde vom Mais geprägt. Auch der Speisezettel der Bauernfamilie änderte sich nach der Einführung des ‚türkischen Weizens’ in unserem Land grundlegend. So wie beim Mahlen des Korns drei verschiedene Qualitäten anfallen sind auch die Rezepte für Maisspeisen dementsprechend vielfältig. Vom ‚Muas‘ über Nudeln bis hin zu Riebel und Polenta. 

Der Tirggen musste getrocknet werden

Mit den heute noch bisweilen sichtbaren ‚Tirggen-Latten‘ an der Südseite von Bauernhöfen wurden zwei Fliegen mit einer Klappe getroffen: einerseits konnte der Mais hier aufgehängt und getrocknet werden. Das hätte aber auch auf den Dachböden der Bauernhöfe und Ställe erfolgen können. Aber: Die Tiroler Bauern verfolgten mit den Tirggen-Latten auch noch eine „architektonische Absicht“, wie mir Petra Streng erzählte. „Es war ganz einfach schön und machte die Bauernfamilien stolz, wenn sie die Maisernte quasi nach außen hin zeigen konnten.“ Bisweilen heute noch sichtbar sind die ‚Tirggen-Kreuze‘, die vielfach aus farbigem Mais gebildet worden sind und die Festigkeit im Glauben dieser Bauernfamilien dokumentieren sollten. Es ist eines der ausdrucksvollsten Symbole an Tiroler Bauernhöfen.

Der Stall der Familie Glatzl in Haiming mit den Tirggen-Latten und eines Teils der neuen Ernte. Hier wird alte Tradition gelebt.

Auf den Tirggen-Latten, die an der Südseite der Ställe angebracht sind, wurden also im Herbst die Tirggen-Kolben zum Trocknen aufgehängt. Der Grund: De Körner der im Herbst gepflückten Kolben sind noch relativ weich und nicht zum Vermahlen geeignet. Ein rundes halbes Jahr an Wind und Sonne macht die Körner so hart, dass sie in einer Mühle verarbeitet werden können. Dass heute – wenn überhaupt – meist nur die leeren Latten zu sehen sind ist ein Beweis für den Niedergang der Jahrhunderte alten ‚Tirggenkultur‘ in unserem Land. Ich muss es wehmütig zur Kenntnis nehmen.

Tirggenaufhängen
Tirggenaufhängen im BIO-Hof der Glatzls in Haiming.

Tirggenanbau ist Handarbeit

Wer die Ausdrücke ‚Tirggenausmachen oder Tirggenausflitschen‘ kennt, ist mindestens 50 Jahre alt. So lange ist’s meist her, dass eine der wunderbarsten Kulturpflanzen unseres Landes der Ernährung gedient hatte. Sieht man von den ‚Cornflakes’ ab, die wohl weltweit beliebt sind. Aber eher unter Zusatznahrung firmieren.

Tirggenausmachen am Bio-Hof der Glatzls in Haiming. Wie ein lustiges Erntedankfest, von Arbeit begleitet. Bild: H. Glatzl

Mit Fäden gegen Saatkrähen

Schon das ‚Tirggen-Stecken‘ war früher mit viel Aufwand verbunden. Die Körner wurden einzeln in ein mit einem Stock gemachtes, kleines Loch gegeben das dann zugeschüttet wurde. Über den Acker hin spannten die Bauersleute Bindfäden, um die Saatkrähen davon abzuhalten, die jungen Maispflänzchen auszureißen um an die immer noch an deren Wurzeln hängenden Körner zu gelangen. 

Auch die Ernte erfolgte dann händisch: die reifen Kolben wurden von der Maispflanze abgebrochen und in die heimische Tenne gebracht. Jetzt ging es erst richtig los.

Tirggenausmachen

Um an die weißen, goldgelben oder gar roten Körner zu kommen, mussten die Tirggenkolben nun ‚ausgemacht‘, also von den Deckblättern befreit werden. Das ‚Tirggenausmachen‘ war früher jene Arbeit, bei der Nachbarn zusammen gesessen sind und eine Art ‚Erntedank‘ gefeiert hatten. Um die Kolben aufhängen zu können, mussten die zwei ersten Deckblätter des Tirggenkolbens am Kolben verbleiben. Sie wurden dann mit zusätzlichen Kolben verknotet. Eine Kunst für sich. Übrigens: Bei mir in Vorarlberg tranken die Männer den letzten stocksauren Most des Jahres aus und wurden dennoch von Minute zu Minute lustiger.

Kolben und Flitscheler
Kolben und Flitschelen

Flitschelen für das Brauchtum

Die als Deckblätter des Maiskolbens dienenden Blätter werden hier ‚Flitschelen‘ genannt und wurden nicht weggeworfen. Sie fanden diretissima Eingang in das Brauchtum.

Verknotete Fitschelen
Die am Kolben verbliebenen Flitschelen werden nun verknotet, damit zwei oder mehrere Kolben gleichzeitig auf den Latten aufgehängt werden können.

Es ist nicht nur um die versunkene ‚Tirggen-Kultur‘ und die damit verbundene Sicherung unserer Ernährungsgrundlage schade. Ich frage mich ernsthaft, ob und wie lange es noch die ‚Flitscheler’ ‚Türggeler’ und ‚Peaschtl’ der Tiroler Fasnacht geben kann wenn ihnen der Hauptbestandteil ihrer Existenz schön langsam ausgeht.

Auch der ‚Tirggenbart‘. wird gesammelt. Getrocknet lässt sich mit der ‚Tirggen-Seide‘ ein schmackhafter und gesunder Tee zubereiten.

Glatzls BIO-Mais-Mehlsorten

Erst nachdem die Kolben bis März-April auf den Stangen vor dem Stadel trockneten konnten werden sie weiter verarbeitet. Auch das Mahlen wird am BIO-Hof der Glatzls in Haiming selbst erledigt. Hans Glatzls wunderbare Wassermühle tut auch bei diesem Getreide beste Dienste. Drei Mehlsorten fallen dabei an: ein feines Maismehl, ein grobkörniges Muasmehl und der Riebelgrieß. 

Tirggen ribeln
Die Körner werden in trockenem Zustand vom Kolben ‚geribelt‘, indem sie über ein Nagelbett gezogen werden.
Hans Glatzl in der Mühle
Der typische Blick des Müllers auf das Wasserrad. Hans Glatzl ist ein wahrer Spezialist für wasserbetriebene Mühlen.
Wasserrad Glatzlmühle Haiming
Das mächtige Wasserrad in Glatzls Haiminger Wassermühle.
Glatzl Mühle Haiming
Die Tirggenkörner werden eingefüllt.
Mahlgut fällt in Ster
Jene Teile des Mahlgutes, das nicht als feines, mittleres und grobes Mehl in einer Trommel aussortiert wurde fällt am Ende des Mahlvorganges in den Ster. Und wird anschließend bis zu viermal neu vermahlen.
In mehreren Durchläufen wird der Tirggen vermahlen. So entsteht ein feines Nudelmehl, ein egwas gröpberes Muasmehl und das Riebelmehl. Im Bild sieht man das Ribelmehl links. Das gröbere Mehl rechts wird in einem weiteren Durchgang vermahlen.

Für wahre Genießer gibt’s bei den Glatzls in Haiming noch den Ofentirggen. Denn beim Tirggenausmachen werden jene Kolben aussortiert, die ungleichmäßig gewachsen oder zu kurz sind. Diese werden dann im Brotbackofen der Glatzls mit der Restwärme vom Brotbacken getrocknet, eigentlich auf eine zarte Art geröstet. In den Körnern karamellisiert daraufhin der Zucker und färbt sie leicht braun. Dadurch erhält das Mehl eine süßliche, höchst interessante geschmackliche Note.

Ofentirggen
Der Ofentirggen wird im Backofen der Glatzls zart geröstet und erhält so seinen unverkennbaren Geschmack. Ein Fest für Liebhaber alter Kost.

Die von den Glatzls erzeugten und von BIO vom BERG vertriebenen BIO-Cornflakes werden nicht in Haiming hergestellt. Mahlen, Produktion und die Verpackung der Cornflakes wird extern durchgeführt. Immerhin sind das jährlich rund 13.000 Kilogramm Mais, die so verarbeitet werden.

Glatzls BIO-Whiskey

Etwa 40 Prozent des vermahlenen Tirggen fallen als feines Mehl an. Man kann sich nun ausrechnen, wieviel Mehl da anfällt. Um dieses kostbare ‚Abfallprodukt‘ nicht samt und sonders den Schweinen zu verfüttern haben die Glatzls einen Whiskey – eigentlich ist’s eine originaler Bourbon mit 100 Prozent Maisanteil – kreiert. Drei Jahre im Eichenfass gereift, ist dieses Trankl absolut topp. Kein Vergleich mit den Industriefuseln, die sich Bourbon nennen und lediglich 51 Prozent Maisanteil aufweisen müssen.

Glatzl Gold vom Biohof Glatzl
Der mit höchster Auszeichnung geehrte BIO-Whisekey, eigentlich ein Bourbon. Gebrannt aus Glatzls BIO-Mais und drei Jahre in heimischen Eichenfässern gelagert. Ein ganz besonderes Tröpfchen.

Meine Tipps:

Für all jene, die den unverkennbaren Geschmack gekochten Tirggens lieben: Diese Tirggen-Produkte sind im BIO-Bauernladele der Glatzls in Haiming erhältlich:

  • BIO-Cornflakes
  • BIO-Polenta
  • BIO-Muasmehl
  • BIO-Ofentirggenmehl
  • BIO-Whiskey
Mais-Polenta vom Biohof Glatzl
Mais-Polenta vom Biohof Glatzl. Natürlich in fantastischer BIO-Qualität

EIN REZEPT FÜR ALLE, DIE TIRGGEN GENIESSEN WOLLEN

Tirggenmehl wurde vor allem in Vorarlberg oft auf Almen und Bergmähder mitgenommen, um gemeinsam mit Butter, Milch und Rahm jene Energie zu liefern, die die Almeler benötigten. Dieses wunderbare Rezept stammt aus dem Montafon und heißt

Montafoner Maiensäßbrösel

Man nehme:

  • 1 Liter Milch,
  • 350 g Tirggen-Muasgrieß von Glatzl
  • 100 g Butter
  • 0,4 cl Rahm,
  • 2 Teelöffel Salz.

Butter leicht anbräunen, Milch beigeben, aufkochen lassen. Tirggen-Muasmehl beimengen, da. 9o – 120 Minuten langsam kochen, zum Schluß Rahm zufügen. Mit Zucker oder Birnenmehl bestreuen. Als Beilage reicht man gerne Apfel- oder Heidelbeermus, Kirschenkompott oder Kirschen im Brösel.

Riebel

Kochen mit Tirggenmehl – einige Links