Blog Nr. 1 der Serie „Die Frau hinter der Romanfigur der ‚Geierwally'“
Gemeinhin würde man vermuten, das Tiroler Lechtal hätte im 18. und 19. Jahrhundert zu jenen armseligen Alpentälern gehört, in denen das Leben ein dauerndes Durchfretten gewesen ist. Dieses Tal bildete indes – zumindest ab dem 18. Jahrhundert – eine wundersame Ausnahme.
Es sind erstaunliche Gründe, die dem Lechtal des 19. Jahrhunderts einen gewissen Wohlstand bescherten. Ich will sie in dieser Blogserie genauso schildern wie die Umstände, die aus dem Lechtaler Mädchen Maria Anna Rosa Knittel die berühmte Malerin Anna Stainer-Knittel machten, die von ihren ‚Alter Ego‘, der legendären Romanfigur “Geierwally‘, lange verdeckt worden ist.
Vorausschicken möchte ich, dass viele Daten und Fakten der ‚Lechtal-Chronik’ des legendären und genialen Lithographen, Künstlers, Heimatforschers und Mentors von Anna Knittel, Anton Falger in meine Blogserie einfließen. Die Details der Tätigkeit der Lechtaler Geldverleiher, von in diesem ersten Blog die Rede sein wird, entnehme ich der Schrift von Martin Mennel „Die Lechtaler als Geldverleiher im Bregenzerwald“.
Wie Maurer aus dem Lechtal den Wohlstand des Tales begründeten
Bittere Armut stand am Beginn jenes kleinen Wirtschaftswunders, das sich im Lechtal abspielte. Sie trieb viele Männer des Tales schon im 17. Jahrhundert als Maurer zwischen April und Martini, dem 11. November, aus dem Tal. Im Jahre 1699 befanden sich 644 Männer als Maurer im Ausland, schreibt Anton Falger. Die Männer verdingten sich in der Ostschweiz, im Elsass, in Deutschland bis hinauf nach Holland. Eisernes Sparen machte es einigen von ihnen möglich, erste kleine Geldreserven anzulegen.
Zu Hause ‚schmissen‘ ihre Frauen inzwischen den Laden. Kümmerten sich um die Landwirtschaft, erzogen die Kinder und entwickelten dabei allerhand Überlebensstrategien. Viele mussten noch Mitte des 18. Jahrhundert einige ihrer Kinder im Sommer ins Schwabenland schicken, damit sie dort quasi durchgefüttert wurden weil zuhause Schmalhans Küchenmeister war. Noch um 1830 wanderten jährlich rund 5.000 sogenannte ‚Schwabenkinder’ aus Tirol und Vorarlberg ins Schwäbische und mussten dort vielfach unter entsetzlichen Umständen für reiche Bauern schuften.
Flachs, Leinen und Maurer waren die Heilsbringer des Lechtales
Im Lechtal kam schon im 18. Jahrhundert eine Pflanze ins Spiel, die ein ganzes Tal aus der Misere zu befreien schien: der Flachs. Ursprünglich dienten auch im Lechtal Anbau und Verarbeitung von Flachs der Produktion von Leinenstoffen vor allem für die Eigenversorgung. Überschüsse, meist in Form von Garn, konnten verkauft werden. Im eigenen Tal war Leinen kaum abzusetzen, die Menschen konnten es sich schlicht nicht leisten. An dieser Stelle kommen jene Männer ins Spiel, die einst als Maurer ausgezogen waren und örtliche, wie auch sprachliche Kenntnisse im Ausland erworben hatten. Viele von ihnen legten die Maurerkelle beiseite und wurden Wanderhändler. Ihr immenser Vorteil: Sie kannten jene Menschen, Städte und Länder aus persönlicher Erfahrung, in denen das teure Leinengarn zu verkaufen war.
Immer mehr dieser ehemaligen Maurer begannen also mit dem Flachsverkauf. Da Gebinde in einer bestimmten Länge ‚Schneller‘ genannt wurden, nannte man diese Händler ‚Schnellerhändler‘. Mit Kraxen machten sie sich auf den Weg, nahmen aber auch noch Schnupftabakdosen oder Schellen aus Häselgehr mit. Kein Weg war ihnen zu weit, keine Kraxe zu schwer. Sie zogen in jene Länder, die sie aus ihrer Maurertätigkeit kannten: in die Ostschweiz, rheinabwärts bis in die Niederlande. Einige wagten sich sogar nach England und Amerika.
Handel macht reich
Bereits 1727 hatte ein Josef Knitel aus Holzgau in den Niederlanden eine Handelsniederlassung gegründet, weil dort ‚Fortuna freigebig‘ war. Bekannt und berühmt wurde eine der vielen Großhandelsgesellschaften, die drei Lechtaler in Amsterdam gründeten. Sie wurde als ‚die vornehmste Handlung‘ bezeichnet und machte deren Gesellschafter steinreich. Selbst in Amerika wurden Lechtaler Händler aktiv.
Wie später der ‚Vater des Lechtals’, Anton Falger in seiner Talbeschreibung ausführte, befanden sich 1799 bereits über 300 Lechtaler Händler im Ausland. Das muss man sich einmal vorstellen! Sie handelten in ganz Europa in der Folge nicht nur mit Tüchern, Bettzeug, Bettfedern, Schmuck und Kurzwaren, Garnen sondern auch mit Pferden, Violinen, Weihrauch, Leinsamen, Messing- und Eisenwaren. Eigentlich mit allem, was Profit abzuwerfen versprach.
Erfolgreiche Händler, die mit viel Geld ins Lechtal zurückkehrten
Der Großteil dieser im Ausland erfolgreichen Männer sehnte sich jedoch nach der Heimat. Viele von ihnen versilberten ihre Gesellschaften und Läden und zogen wieder – reich geworden – zurück ins Lechtal. Und prompt war hier ein Bauboom die Folge. Die Heimkehrer ließen noble Häuser aus Stein errichten und Holzhäuser außen verputzen. Die Lüftlmalerei wurde zum sichtbaren Ausdruck des massiven Reichtums vieler Bauherren. Hier einige Beispiele von Häusern im ‚Lüftldorf Holzgau‘.
(Alle Bilder: Lechtal Tourismus)
Manche schenkten auch dem Innenausbau große Aufmerksamkeit. So ließ ein ehemaliger Seidenhändler aus Holzgau einen Salon mit städtischem Biedereiermobiliar ausstatten. Man gönnte sich schon damals Exquisites.
‚Vorbeirauschende‘ Frauen verkörperten den Reichtum
Da ist’s beileibe kein Wunder, dass sich der neue Wohlstand auch in der Kleiderpracht und dem Schmuck der Frauen manifestierte. Den größten Luxus leistete sich, wie der Chronist Anton Falger schildert, eine gewisse Magdalena Lumperin. „Von ihr sagte man, dass sie 64 Kleider besaß und mehr als ein Dutzend Schuhe.“ Wenn solch reiche Frauen in Elbigenalp dahinschritten, hieß es, „heute rauschen sie wieder vorbei…“. Denn die schweren Stoffe rauschten beim Dahinschreiten.
Sogar der Märchen-Kini Ludwig II. war Gast der Lechtaler
Da konnten es sich reiche Lechtaler sogar leisten, ab 1867 die bayerische Königinmutter Marie von Bayern, ihre Söhne König Ludwig II. – das ist der ‚Märchen-Kini’ mit den Schlössern – und Prinz Otto samt einem Gefolge von 30 bis 50 Leuten wiederholt nach Elbigenalp einzuladen und – logo – zu verpflegen. Im Jahre 1873 verbrachte die Königinmutter gar sieben Wochen im Lechtal. Sie genoss die spendable Großzügigkeit der Lechtaler, die sich ja sonst wenig gönnten.
Der Traum vieler Lechtaler: von den Zinsen leben zu können
Neben dem Bau massiver Häuser wollten dann aber viele der meist steinreich ins Lechtal zurückgekehrten Lechtaler Händler ihr Kapital für sich arbeiten lassen. Es sollte Zins bringen und für einen geruhsamen, halbwegs luxuriösen Lebensabend in edler häuslicher Umgebung sorgen. Da Banken oder Sparkassen damals noch nicht existierten, stiegen die reich gewordenen Lechtaler ins Geldverleih-Geschäft ein.
Das Lechtal als Kapitalgeber des Bregenzerwaldes
Die Geldverleiher des Lechtales wandten sich zuerst dem benachbarten Allgäu zu, in dem sie Darlehen zwischen durchschnittlich 4 % und 4,5 % Zinsen anboten. Das erste, urkundlich bekannte Geldgeschäft zwischen einem Lechtaler Geldverleiher und dem Bregenzerwald reicht ins Jahr 1729 zurück. Und das, obwohl der Weg in den Bregenzerwald sehr beschwerlich war, musste doch der Tannberg auf bisweilen steilen Saumpfaden überwunden werden.
Im Bregenzerwald tauchten die Lechtaler grad zur rechten Zeit auf. Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verarmten immer mehr Bauernfamilien. Der Hauptgrund dafür war die alemannische Realteilung, bei der alle Erben eines Bauernhofes gleich viel Grund und Boden erhielten. Was folgte war eine Aufsplitterung der Grundstücke, viele Familie konnten sich vom Ertrag von Grund und Boden kaum noch ernähren.
An den Lechtalern schätzten die Bregenzerwälder die günstigen Zinssätze und vor allem die Tatsache, dass das Kapital in der Regel nicht gekündigt wurde. Und so wurden die Schulden oft über Jahrzehnte von einer Generation an die nächste übergeben, es waren ja ‚nur‘ die Zinsen zu zahlen. Auch bei Schwierigkeiten mit den Zinszahlungen konnten die Bauern mit ihren Kreditgebern reden. Selbst der große Bauerndichter Franz Michael Felder war ein ‚Kunde‘ der Lechtaler Geldverleiher.
Elisabeth Maldoner, die reichste Lechtalerin ihrer Zeit
Auch hier gibt es ruhmreiche Beispiele der Menschlichkeit Lechtaler Geldverleiher. Die damals reichste Frau des Lechtales hieß Elisabeth Maldoner, im Tal als ‚die reiche Lisbeth‘ bekannt und bewundert. Sie besaß 1847 knapp 300.000 Gulden aus den Geschäften ihres Vaters.
Das von ihr gewährte Darlehenskapital stieg zwischen 1831 und 1847 um 112.864 Gulden auf 260.650 Gulden. Bekannt wurde die ‚reiche Lisbeth‘, als sie mit einer riesigen Summe den Wiederaufbau von Oberstdorf möglich machte. Innerhalb von vier Stunden waren am 6. Mai 1865 146 der 316 Häuser abgebrannt. Kirche, Schule, Rathaus, alle Bäckereien und Kaufläden waren in Schutt und Asche gesunken. Vermutlich haben sie und ihre Nachfahren in den Jahren danach auf einen beträchtlichen Teil der Kapitalrückzahlung verzichtet. Es ist bekannt, dass sie ihre ‚Zinseintreiber‘ beauftragte, in besonders schwierigen Fällen bei den Zinszahlungen Rücksicht walten zu lassen. Mehr noch: Die Herren hatten auf eine Zinszahlung bisweilen ganz zu verzichten.
Was sind nun rund 300.000 Gulden in Euro umgerechnet wert? Das neu errichtete ‚Doktorhaus‘ in Holzgau, von reichen Rückkehrern finanziert, kostete damals 1.671 Gulden. Die Frau Maldoner besaß also 156 Doktorhäuser. Rechnet man die heutigen Baukosten von rund 500.000 Euro für ein solches Haus, besaß Lisbeth Maldoner damals 78 Mio €.
Anna Knittel wurde in Obergiblen – Elbigenalp geboren
Am 28. Juli 1841 erblickte Maria Anna Rosa Knittel als zweites von insgesamt vier Kindern des Joseph Anton Knittel und seiner Frau Kreszenz geb. Scharf das Licht der Welt. Sie wurde in eine nicht wirklich reiche, aber für die damaligen Verhältnisse wohlhabende Familie geboren. Ihr Vater war Büchsenmacher und führte eine kleine Landwirtschaft. Einer ihrer Großonkel war berühmter Maler, der es als Autodidakt zu Ruhm und Ehre in Italien gebracht hatte. Und einer ihrer Onkel war Bildhauer in Freiburg im Breisgau. Damit war der kleinen Anna Knittel die Kunst quasi in die Wiege gelegt worden.
Zwei Persönlichkeitsmerkmale gesellen sich zu den familiären Voraussetzungen. Sie sind es, die den künftigen Lebensweg von Anna Knittel maßgeblich prägen: ihr Mut, zweimal einen Adlerhorst auszunehmen und ihre Beharrlichkeit, Künstlerin zu werden und ein emanzipiertes Leben als Frau zu führen.
Während die Existenz Anna Stainer-Knittels als Malerin bisher eher wenig Beachtung erfahren hat, hat sich die Figur der Geierwally in Film, Theater und Populärkultur gehalten. Ihr Alter Ego ist für sie somit Fluch und Segen zugleich. Sie selbst hat ihre mutige Aktion im Adlerhorst stets herunter gespielt und ihnen keine große Bedeutung zugewiesen.
Ich will anlässlich der Neuverfilmung des Romanstoffs der Geierwally durch Tiroler Künstler mit meinem Blog die mutige Künstlerin Anna Stainer-Knittel quasi vor den ‚Geierwally-Vorhang‘ holen. Er hat sehr lange eine Künstlerin verdeckt, die ein großes Œuvre hinterlassen hat. Gleichzeitig möchte ich die gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Umstände schildern, von denen sie beeinflusst wurde und mit denen sie leben musste. Also quasi eine Zeitreise durch die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts am Beispiel dieser bewundernswerten, in Tirol legendären Frau. Wer keine Folge versäumen will sollte diesen Blog abonnieren.
In der nächsten Folge des Blogs zur Anna Stainer-Knittel werde ich die Jugendjahre der Künstlerin schildern und damit auch die zwei Abstiege zum Adlernest. Ich werde auch jenen Mann würdigen, der am Beginn der Karriere von Anna Knittel steht und dessen Lebensleistung unglaublich erscheint: Den Lithographen, Kunstsammler, Kartenstecher und Archivar des Lechtales, Anton Falger.
Hier geht’s zur Fortsetzung, zum Blog Nr 2: Ein brillanter Geist als Mentor der Anna Knittel
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