Verstoßen: Ein Buch als Mahnung

„Verstoßen“ ist der Titel eines soeben erschienenen Buches im Tyrolia Verlag. Darin setzt die Autorin und Historikerin Gerda Hofreiter jenen jüdischen Kindern und Jugendlichen aus dem ‚Gau Tirol-Vorarlberg‘ ein Denkmal, die zwischen 1938-1945 von den menschenverachtenden Nazis aus ihrer Kindheit gerissen, vertrieben und teilweise ermordet worden sind. Sie hat die Schicksale aller 101 Kinder und Jugendlichen, die in der Zwischenkriegszeit geboren wurden und den ‚Reichsgau‘ Tirol-Vorarlberg spätestens 1939 verlassen hatten, detailreich und in jahrelanger mühevoller Recherche nachgezeichnet.

Das Buch erscheint just in einer Zeit, in der Neo-Nazis und die mit ihnen paktierenden rechtsradikalen Parteien wieder von Deportationen schwafeln und mit ihren hasserfüllten Reden die demokratischen Errungenschaften beseitigen wollen. Die Autorin zeigt nicht nur die Brutalität und Menschenverachtung der Nazi-Ideologie anhand beklemmender persönlicher Schicksale auf. Es ist ihr auch gelungen, aus all dem Leid ein Stückchen Hoffnung zu destillieren. Die Hoffnung nämlich, dass der Großteil unserer Gesellschaft aus der Geschichte zu lernen bereit ist. 

Auch Otto Grünmandl und seine Familie litten schwer unter den unfassbaren Gräueln des Nazi-Regimes. v.l. Betty, Christine, Herta, Ludwig, Otto, Alfred Bild: Tyrolia.

Man kann dieses Buch auch ein Geschichtenbuch nennen, obwohl es weit mehr als das ist. Die bisweilen schrecklichen Geschichten der Kinder stehen im Vordergrund und sie sind wahr. So unglaublich sie auch manchmal klingen mögen. Wenn etwa Dreijährige ohne Eltern mit einem Kindertransport England erreichten. Oder sich Kinder zu Fuß über die Pyrenäen oder die grüne Schweizer Grenze retteten. Auch die Geschichte jener Kinder wird nachgezeichnet, die zuerst meist mit ihren Eltern Zuflucht und Sicherheit in Frankreich, Italien, Litauen, Ungarn oder den Niederlanden fanden. Länder, die später von den mordenden Nazihorden erobert wurden. Die dann, um ihr nacktes Leben zu retten, wiederum flüchten mussten. Und wenn ihnen das nicht gelang in den barbarischen KZ auf bestialische Weise ermordet worden sind.

Das Buch schildert die Lebenswege von 101 Kindern nach deren Flucht oder Deportation. Bild: Tyrolia

Wie war es aber möglich, einen kompletten Personenkreis zu erfassen, wie es die 101 Kinder aus Tirol und Vorarlberg waren und diesen Gau spätestens 1939 verlassen haben? Einerseits lebten relativ wenige Juden in den beiden heutigen Ländern. Andererseits hat die Autorin jahrelang für dieses Buch recherchiert. Sie hat in Israel mit noch lebenden, einst als Kind Vertriebenen oder deren Nachfahren gesprochen. Oder andere in London, Oxford, Rum, Hall, Innsbruck, in Konditoreien in Wien und Innsbruck oder in Altersheimen getroffen. Eine Arbeit, die den einst brutal Verfolgten im Nachhinein jenen längst fälligen Respekt erweist, den unsere Politiker_innen lange nicht zu geben bereit waren.

Viele dieser Geschichten sind sehr bedrückend. Die Schilderungen, wie sich Verstoßenwerden aus dem Nest anfühlt, wie der Verlust der Geborgenheit und sich das Erlebnis von himmelschreiender  Ungerechtigkeit auf die kindliche Psyche legt sind beklemmend. Und wenn zu diesen seelischen Belastungen noch der Verlust der Eltern kam, konnte so ein kleines Kind schon einmal heftig reagieren. Gerda Hofreiter ist mit ihren Schilderungen zu einer Art ‚Protokollantin‘ der Ungeheuerlichkeit namens Deportation und Vertreibung geworden. 

Ein letztes Foto der Familie Leven vor der Flucht der Kinder mit dem Kindertransport nach England. Auch den Eltern gelang später die Flucht. Bild: Tyrolia

Die Autorin lässt ihre Leser_innen aber auch miterleben, wie hilfreich es sein kann, etwas gelernt und eingeübt zu haben. Wie Geschicklichkeit, Ausdauer, Tatkraft strategisches Planen und Denken in Zeiten des Hasses wichtig sind. Und so sind die meisten Erzählungen Überlebens- und Neuanfangsgeschichten, die Hoffnung machen.

Dass von den vertriebenen Kindern nur wenige jemals in ihre alte Heimat Österreich zurückgekehrt sind, wundert mich nicht. Es braucht viel Kraft und Energie an jene Orte zurückzukehren, von denen man brutal vertrieben worden ist.

Die Autorin

Die Autorin, Gerda Hofreiter mit dem Schauspieler Johannes Nicolussi bei der Buchpräsentation im Tyrolia-Haus.

Es ist dem Tyrolia-Verlag zu danken, dass die jahrelangen intensiven Recherchen von Gerda Hofreiter in einem bemerkenswerten Buch nun veröffentlicht werden. Die einstige Volks- und Hauptschullehrerin hat 2007 noch ein Geschichtestudium abgeschlossen und ist auch Autorin einer weiteren Geschichts-aufarbeitung: „Allein in die Fremde. Kindertransporte von Österreich nach Frankreich, Großbritannien und in die USA 1938–1941“.