Echte Patrioten

Fünf ,g‘standene‘ Männer haben derzeit im Valsertal alle Hände voll zu tun. Sie ziehen ‚ihr‘ Bergheu über steile Pfade von den ,Inneren Mähdern‘ ins Tal. Eine archaische Tätigkeit, der mein allergrößter Respekt gilt. Denn die Männer nehmen ihr uraltes kulturelles Erbe ernst. Anstatt über dessen sanftes Entschlafen zu lamentieren halten sie es am Leben, praktizieren es. Es sind echte Patrioten. Aber – auch das muss gesagt werden – sie tun es auch um einer speziellen Belohnung willen.

Seit dem Sommer 2015 nehme ich das Wort ,Patriot‘ und ,Tradition‘ wieder in den Mund. Ich meine damit nicht die in Tirol ungemein beliebte wie dumpfe Anbetung der Asche von 1809. Oder die von politischen Lügnern und Maulhelden gebetsmühlenartig, keifend und mitunter schreiend wiederholten verbalen Absonderungen über Patriotismus, nur um das Wort Rassismus nicht verwenden zu müssen.

Nein, hier soll die Rede von der Weitergabe jenes Feuers sein, das ein Überleben uralter Traditionen sichert. Ich möchte von den letzten, gerade noch sichtbaren Resten bergbäuerlicher Kultur berichten. Und auch davon, dass deren Überleben von den Aktivitäten einiger Weniger abhängt.

Spätestens seit dem Sommer 2015 kenne ich Menschen, die ihre Heimat wahrhaftig lieben. Die sich nicht bierselig und vollmundig an Stammtischen ihrer Heimatliebe rühmen. Und schon gar nicht solche, die meinen, genug getan zu haben, wenn sie in Fantasietrachten gekleidet und altes Liedgut singend dem Land Tirol die Treue schwören. 

Echte Patrioten sind Menschen, die sich außerhalb von Stammtischreden und patriotischen Aufmärschen ohne Aufhebens bereit erklären, jene Traditionen zu pflegen, mit denen unsere Vorfahren das Überleben in den einst lebensfeindlichen Alpen geschafft haben. Das sind Arbeiten und Verrichtungen, von denen vielleicht auch einmal unsere Zukunft in den Alpentälern abhängt. Von solchen aktiven und selbstlosen Menschen will ich berichten. Ihnen gilt mein tiefster Respekt.

Nockeralm mit Inneren Mähdern

Die Nockeralm in Innervals. Im Hintergrund sieht man hoch über der Talsohle die Inneren Mähder, jenes Gebiet, das von Freiwilligen bearbeitet wird.

Heuschober im Valsertal

Einer der Heuschober am ‚Inneren Mahd‘ in Vals vor dem majestätischen Olperer.

Vom Wert bäuerlicher Arbeit

Was diese fünf Männer als Freiwillige tun, möchte ich beinahe pathetisch als Traditionspflege auf allerhöchstem Niveau bezeichnen. Sie scheuen sich nicht, die körperlich ebenso schweißtreibend wie anspruchsvolle Arbeit der Pflege der steilen Bergmähder im Valsertal auf sich zu nehmen. Sie tun das ohne jede Bezahlung, wenn man von den ‚Förderungen‘ absieht, die das Land Tirol unter allerhand politischem Getöse in der Größenordnung von Almosen ausschüttet. Mit diesem Geld – ich sollte eher sagen mit diesem ‚Bettel‘ – sanieren die Männer übrigens grad auch noch eine alte, ehrwürdige Kapelle im vorderen Valsertal.

Alois Gatt beim Binden einer Burde

Luis, der pensionierte Valser Schuldirektor, beim Heumachen im Ocherloch-Bergmahd.

Und weil es in unserer hektischen, geldgeilen und immer gewalttätigeren Ellbogen-Welt offenbar niemand mehr auffällt: Hier verrichten Menschen freiwillig und ohne jede Aufforderung Arbeiten, ohne die der Tourismus gar nicht existieren könnte. Arbeiten, die zudem auch noch gleichzeitig eine in Zukunft wohl unabdingbare Katastrophenvorbeugung sind.

Wer etwa glaubt, der Sommertourismus in Tirol könnte ohne gepflegte Almen und die blumenübersäten Bergmähder auskommen, der glaubt auch an Christkind und Osterhas‘.  Und wer glaubt, die Klimaveränderung ginge ausgerechnet an Tirol spur- und folgenlos vorbei ebenfalls.

Die Frage, welchen Wert die Arbeit unserer Bergbäuerinnen und Bergbauern überhaupt hat, sollte endlich offen diskutiert werden. Anstatt sie als Landschaftspfleger_innen für den Tourismus hinzuhalten und mit Almosen abzuspeisen müssen bergbäuerliche Qualitätsprodukte wie Milch, Käse und Fleisch völlig neu bewertet werden.

Bergbauern als Landschaftspfleger ja? Aber als Lieferanten nein?

Ist es nur für mich untragbar, dass der ganz große Teil der Tiroler Hoteliers ihren Gästen lieber Fleisch, Milch und Käse aus chemisch-industrieller Produktion vorsetzt als aus regionaler Erzeugung? Ist es nicht entwürdigend, wenn Bauern zwar als Landschaftspfleger erwünscht sind, als Lieferanten jedoch außen vor bleiben? Mich bringen die Standardausreden sogenannter ‚Touristiker‘ schon seit Langem auf die Palme: „Wir kriegen nicht die Mengen, die wir brauchen und nicht die Qualität, die wir wollen.“ Wenn das so sein sollte: weshalb setzen sie sich dann nicht mit den Bäuerinnen und Bauern an einen Tisch um darüber zu diskutieren und gemeinsam Lösungen zu entwickeln?

Den ‚Touristikern‘ ins Stammbuch geschrieben: Nur selbstbewusste Bäuerinnen und Bauern schaffen es, die jahrtausendealte bergbäuerliche Kultur zu erhalten und weiter zu entwickeln. Und damit die wunderschöne Landschaft, mit denen wir werben. Das Selbstbewusstsein kann sicher nicht mit Almosenzahlungen und gutem Zureden der Tourismuswirtschaft gesteigert werden. Oder gar mit den bekannt halblauen Sonntagsreden heimischer Politiker_innen, die sehr viel heiße Luft absondern.

Ja, noch was: wenn die Arbeit der Bergbäuerinnen und Bergbauern nicht mehr gemacht wird, dürfen wir in den Tälern beginnen, uns ‚warm‘ anzuziehen. Denn dann werden Überschwemmungen, Lawinen und Vermurungen alltäglich. Den Vorgeschmack dazu haben wir in den vergangenen Sommern erlebt, als nach Schlagwettern Bäche zu reißenden Flüssen geworden sind und alles mit sich rissen. Wollen wir das? Wenn nein: weshalb kaufen wir nicht schon längst regionale Lebensmittel?

Almjause auf Helgas Alm im Valsertal

Alle sehen ein, dass unsere Berglandwirtschaft nicht mit der Agro-Industrie mithalten kann. Und dennoch werden die Bäuerinnen und Bauern aufgefordert, sich ‚fit für den globalen Markt‘ zu machen. In der Zwischenzeit glaubt man auch in Tirol, sie mit Almosen für die Landschaftspflege abspeisen zu können. Wenn die Bergbäuerinnen und Bergbauern ihre Arbeit nicht mehr verrichten, müssen wir uns in den Tälern ‚warm anziehen‘. Im Bild: eine Almjause auf Helgas Alm.

Meine Premiere als Heuzieher im Valsertal

Immer, wenn es in die Berge geht, ist frühes Aufstehen im Valsertal selbstverständlich. Die fünf Mander, allesamt Pensionisten, machen sich denn auch schon vor Sonnenaufgang auf den Weg. Jeder nimmt einen ,Ferggl‘, so werden die hölzernen Gestelle genannt, auf denen das duftende Bergheu zu Tal gezogen wird, und beginnt den Aufstieg auf das Bergmahd, das hier das ,Innere Mahd‘ genannt wird.

Hans Holzmann, Heuziehen

Hans Holzmann vulgo Joosn mit einem Ferggl vor dem Aufstieg zu den Inneren Mähdern.

Luis Gatt auf Heuschober

Die Heuschober werden ‚abgebaut‘. Luis Gatt löst das Bergheu…

Ferggl, Heuziehen im Valsertal

… sein Bruder Erich legt es auf’s Ferggl.

Lange genug hatten sie auf den Schnee gewartet. ,Hart gewartet‘, wie Alois Gatt, der pensionierte Volksschuldirektor von Vals zugibt. Gemeinsam mit seinem Bruder Erich Gatt, mit Hans Holzmann, Gottlieb Gatt und Hans Eller fühlt er sich dieser uralten bergbäuerlichen Tradition verpflichtet. Sie alle hatten einen anderen ,Brotberuf‘, sind jetzt aber auf ihre alten Tage im Valsertal die Triebfeder dafür, dass die Bergmähder weiter bewirtschaftet werden. Wie lange noch, das bleibt die Frage. Denn jünger werden die rüstigen Rentner ja auch nicht.

Erich Gatt Heuziehen

Heuziehen ist so gefahrlost nicht. Hier eine der Schlüsselstellen, die Erich Gatt gekonnt überwindet.

Das Heuziehen ist der jährliche Schluss- und Höhepunkt des bäuerlichen Jahres, wie es die Bergbauern hier seit Jahrhunderten leben. Es war eine Überlebensstrategie die die Bauernfamilien zwang, im Sommer teils extrem steile Berghänge zu bewirtschaften. Es begann damit, die Mähder im Frühjahr von Steinen, die von Lawinen hergetragen worden waren zu säubern. Dann ging es ans ,Reparieren‘ der sogenannten Blaiken. Das sind Verletzungen der meist nur dünnen Humusschicht. Solche Risse können, wenn sie nicht geschlossen werden, zum Ausgangspunkt katastrophaler Hangrutschungen und Muren werden. Und zuguterletzt gehörte das Beseitigen einwachsender Sträucher und Bäume ebenso zur Pflege der Mähder wie die Erhaltung der Bewässerungskanäle, der sogenannten Waale.

Die Heuzieher vom Valsertal

Ein letztes fixieren der Seile – und dann geht’s ab ins Tal. Von rechts nach links: Hans Holzmann, Gottlieb Gatt (+)(und Hans Eller.

Unter nahezu unmenschlichen Anstrengungen schufen unsere Vorfahren also jene duftenden Bergwiesen, die in ihrer Artenvielfalt ihresgleichen suchen. Und die zum Sehnsuchtsziel für Einheimische und Touristen gleichermaßen geworden sind. Noch was: Es ist dieser Arbeit von Bergbäuerinnen und Bergbauern zu verdanken, dass die Alpen zu jener Natur- und Kulturlandschaft geworden sind, die das Aussehen der Alpen bis heute prägt. Und die den Tourismus erst ermöglichte.

Touristenrast

Das innere Valsertal mit seinen steil aufragenden Bergmähdern.

Und es waren Männer wie die fünf Valser Heuzieher, die diese Bergmähder im Sommer von Hand mähten und das Heu ernteten um überhaupt zu überleben. Sie taten dies teils sogar mit Steigeisen an den Schuhen, um nicht abzustürzen. Das Innere Mahd im Valsertal wäre vermutlich schon mit Sträuchern, kleinen Bäumen, Almrosen und Preiselbeersträuchern überwuchert wenn nicht Erich Gatt vor Jahren schon eine Aktion ins Leben gerufen hätte, die sich der Pflege dieser hoch gelegenen Mähder verschreibt. Denn viele Besitzer der Bergmähder ließen entweder ihre Höfe auf oder hatten im Nebenerwerb ganz einfach nicht mehr die Zeit, die Mähder allein – sprich ohne eine Großfamilie – zu bewirtschaften. (Es ist übrigens jener Erich Gatt, den ich für einen ganz großen Landart-Künstler halte. Hier geht’s zur Beschreibung seiner kunstvoll gestalteten Zeischalm.)

Heuziehen in Vals

Heuziehen ist nichts für Weicheier oder Warmduscher. Dafür braucht’s richtige Männer.

Unter den etwa 20 Männern, die heute im Sommer die Valser Bergwiesen ganz und gar freiwillig und mit großer Begeisterung von Hand mähen, sind auch viele junge Burschen, die sich einige Tage Zeit nehmen, um diese, ihre Tradition zu pflegen. Die das getrocknete Gras dann mit Burden zusammentragen um es dann in Schobern zu lagern. Es besteht also die Hoffnung, dass die Tradition nicht abreisst.

Im Winter geht es nun darum, diese Heuschober – schwedenbombenartig aufgebaute Heutürme – abzutragen und mit Ferggln zu Tal zu bringen. Dem ‚Auflegen‘ des Bergheus auf das Ferggl kommt jetzt größte Bedeutung zu. Gilt es doch, die Heuladungen über teils steil abfallende Pfade zu Tal zu bringen und nicht zu ,lämparn‘. So nennen die Heuzieher im Valsertal Vorfälle, bei denen ein Ferggl verloren geht und samt der Heuladung über die steilen Berghänge hinunterkullert ohne den Heuzieher mit ins Verderben zu ziehen. Aber das Heu – das geht beim Lämpern verloren.

Heuziehen im Valsertal

Mein erster Versuch als Heuzieher im Valsertal. Ich habe gottseidank nicht ‚gelämpert‘. Aber: mein Mut war und ist enden wollend.

Wie gesagt: Ich hatte kürzlich die Ehre, die fünf Heuzieher auf die Inneren Mähder begleiten zu dürfen. Dass ich ihnen beim Aufstieg nicht folgen konnte, brauch‘ ich nicht mehr extra zu erwähnen. Dennoch, ich habe ein klein Wenig auch zum Heuziehen beigetragen: ich schleppte ein Ferggl mit in die Höhe und durfte sogar kurzfristig eines der Reisl in Richtung Tal lenken. Ganz ehrlich: Um die steilen und vor allem sehr schmalen Pfade mit dem 150 kg schweren Reisl zu bewältigen, dazu fehlte mir – noch – der Mut. Aber das wird schon noch…

Heuziehen im Valsertal

Ein Bild wie aus vergangenen Zeiten und dennoch aktuell.

Heuziehen Vals

Nach getaner Arbeit: Alois ‚Simeler‘ Gatt, Hans ‚Manuels‘ Eller, Erich ‚Simeler‘ Gatt, Gottlieb Gatt und Hans ‚Joosen‘ Holzmann. (Anmerkung: Im Valsertal wird das Ableben von Gottlieb Gatt, 2. v. r. im Dezember 2017 betrauert. Er war einer dieser echten Patrioten im Valsertal. Unser Mitgefühl gilt seinen Angehörigen)

Die fünf Männer brachten die Reisl natürlich sicher und mit viel Schwung zu Tal. Wo sie auf einen Transporter geladen und zu den begünstigten Bauern gebracht werden. Ja, und dort gibt‘s die Belohnung für die mutig-wackeren Heuzieher: ein dampfendes Essen, das mit einem Gebet und dem Genuss einiger Schnäpse eingeleitet wird. Und dem zum Abschluss ein Verdauungsschnapserl folgt.

Es ist dieses Essen, so sagen die Heuzieher, das sie immer wieder motiviert, im Winter auf die Mähder zu gehen um das Bergheu zu Tal zu bringen. Auch das Essen gehört zur Tradition.

Für die Heuzieher ist die kräftige Kost die eigentliche Belohnung ihrer Tätigkeit. Dafür haben sie gearbeitet.

Heuzieher Vals

Die Valser Heuzieher samt dem Chronisten nach getaner Arbeit. Von li.n.re: Gottlieb Gatt, Erich Gatt, Hans Eller, Werner Kräutler, Hans Holzmann, Alois Gatt.