Vor genau 500 Jahren wurde in Glurns im Oberen Vinschgau ein unglaubliches Urteil gesprochen. Lutmäuse, das sind Wühlmäuse, die Stilfs heimgesucht hatten, mussten „ihre Acker und Wismähder in vierzehn Tagen raumen, da hinweg ziehen und zu ewigen Zeiten dahin nimmer mehr kommen.“ Den Urteilsspruch verkündete Richter Wilhelm von Haßingen im Gericht zu Glurns am 2. Mai 1520.
Mäuse vor Gericht? Für uns ‚moderne‘ Menschen klingt das abstsrus. So wurde das Urteilsprotokoll des ‚Mäuseprozesses von Glurns‘ denn auch lange Jahre als ‚Schwank‘ abgetan. Was wissenschaftlich kaum haltbar ist. Auch wenn wir es heute nicht mehr wahr haben wollen: Tieren wurde zu Beginn der Neuzeit Rechtsfähigkeit zuerkannt. Also genau das, was unsere ‚moderne‘ Gesellschaft immer noch kategorisch ablehnt.
Und wenn wir das Urteil in einem der sonderbarsten Prozess der Tiroler Rechtsgeschichte ernst nehmen müssen wir uns an die Nase fassen: Die Menschheit war auch schon einmal weiter als heute. Selbst sogenannte Schädlinge hatten das Recht auf faire Behandlung.
Das Vinschgau litt noch an den Folgen der ‚Schweizerkriege‘ Maximilians
Noch ein Wort zum Vinschgau vor 500 Jahren. Die Situation im Jahr 1519 – da wurden nämlich die Lutmäuse erstmals von einem Abgesandten der Gemeinde Stilfs beschuldigt – war vermutlich zum Verzweifeln. Damals war es genau 20 Jahre her, dass die Graubündner Landsknechte die Truppen Kaiser Maximilians in der Calvenschlacht bei Mals vernichtend geschlagen hatten und den Vinschgau anschließend in einem wahren Amoklauf total verheerten. Die Bevölkerung wurde teils bestialisch ermordet, die Häuser geplündert und dann in Brand gesteckt. Zuvor wurden die Tiere aus den Ställen und ins Engadin getrieben. Das Gebiet wurde regelrecht entvölkert und lag anschließend rund 100 Jahre ‚darnieder‘. Das ist übrigens auch ein Mitgrund, weshalb so viele romanische Kirchen im Oberen Vinschgau bis in die heutigen Tage erhalten geblieben sind – die Menschen hatten einfach kein Geld, sie in gotische Bethäuser umzuwandeln.
Mäuse-Klage zugelassen
So ist es nicht verwunderlich, dass in diesen üblen Zeiten jedes Hälmchen Gras auf den steilen Bergmähdern Bedeutung für das Überleben der Bauernfamilien hatte. Und in Stilfs trieben es vor 500 Jahren die Wühlmäuse offenbar tolldreist. Bis den Gemeindeverantwortlichen der Geduldsfaden riss. Das wollten sie sich nicht länger bieten lassen. Sie beauftragten den Bürger Simon Fliß beim Richter Wilhelm von Haßlingen im zuständigen Gericht zu Glurns Anzeige gegen die Wühlmäuse einzubringen. Ihr Verlangen: die Mäuse müssen für ihr Verhalten angeklagt werden.
Und in der Tat: der Richter ließ die Klage zu und bestellte den Stilfser Bürger Hans Grinebner zum Prokurator – quasi zum Verteidiger – der Wühlmäuse, während die Gemeinde Stilfs ihrerseits Scharz Minig aus Tartsch zum Ankläger bestellte. Alles musste damals schon seine formale Richtigkeit haben.
Die Mäuse erscheinen erst gar nicht vor Gericht
Am 2. Mai 1520 fand schließlich die Tagsatzung statt. Obwohl der Stilzer Anwalt Scharz Minig die Wühlmäuse vorgeladen hatte waren diese nicht erschienen. Deshalb musste ihr Verteidiger für die Mäuse einspringen. Mehrer Zeugen wurden gehört. Sie alle bestätigten, dass die Lutmäuse „merkliche Schaden getan haben an Umwühlung des Erdreichs, also dass die von Stilfs das Hew (Heu) und Grumat die Zeit lang wenig genossen“. (Anm.: Grumat ist der letzte Grasschnitt des Sommers). Ein anderer Zeuge bestätigte dies. Etwa, dass Tiere, „deren Namen er nit wisse, denen von Stilfs in ihren Gütern großen Schaden getan hant“.
Geleitschutz für die Mäuse gegen Hunde und Katzen
Die Aussagen reichten zur Anklageerhebung. Begründet wurde sie vor allem damit, dass die betroffenen Bauern in Zukunft nicht mehr ihren Jahreszins an den Grundherrn leisten könnten und dadurch gezwungen wären, auszuwandern. Der Verteidiger der Mäuse wies darauf hin, dass die Tiere schon seit langer Zeit dort oben wohnten und bat aufgrund des Gewohnheitsrechtes um eine milde Strafe. Er schlug vor, den Wühlmäusen zu gestatten, den Ort geordnet zu verlassen. Auch sollte ihnen Geleitschutz gegen ihre natürlichen Feinde wie Hunde und Katzen gewährt werden. Darüber hinaus bat er darum, bei trächtigen Tieren eine Ausnahme zu machen. „Er sey auch in Hoffnung, wenn aine schwanger wäre, dass derselben Ziel und tag geben werde, dass ir Frucht fürbringen und alsdann auch damit abziehen möge.“ Diesen Tieren wurde eine Frist von 14 Tagen nach der Niederkunft gewährt. Die Vorschläge des Mäuse-Verteidigers wurden ins Urteil aufgenommen.
Prad verlangte ebenfalls eine Bewachung durchziehender Mäuse
Damit war die Sache aber noch längst nicht erledigt. Die Stilfser waren nun verantwortlich dafür, für ihre Wühlmäuse neue Wohnstätten zu finden. Nach längerem Hin und Her genehmigte die Gemeinde Schluderns, dass die Mäuse auf der „Spondiniger Leiten“ Zuflucht finden können. Nun aber meldete Prad Bedenken an. Ein Durchzug der Mäuse werde nur unter der Bedingung gestattet, dass die Tiere quasi bewacht werden. Und dass sie nicht mehr den Weg zurück nach Prad fänden.
Prozession in der Karwoche gegen die Mäuseplage
Die Wühlmäuse dürften sich ob des Urteils keinen Kopf gemacht haben. Jedenfalls gelobten die Stilzer 30 Jahre danach, genau am 20. Oktober 1550 in einer Urkunde, am Mittwoch in der Karwoche in Prad eine jährliche Prozession mit Kreuz zur „Abwendung des großen Schadens der Feldmäuse“ durchzuführen. Nicht genug damit. Am Tag des Heiligen Magnus, also am 6. September, wurde dieser gebeten, die Mäuseplage hintan zu halten. Alle verheirateten Personen sollten mit einem Kerzenlicht in die Messe gehen. Ob diese Mäuse-Vertreibungsstrategien erfolgreich waren ist nicht bekannt.
Für mich ist es sehr bemerkenswert, dass um 1500 sogar Wühlmäusen eine eigene Rechtspersönlichkeit zugesprochen wurde. Diese Geisteshaltung ist erst wieder Ende des 20. Jahrhunderts im Zuge der Umwelt- und Tierschutzbewegung aktuell geworden.
In Glurns erinnert man sich dieses Prozesses in der Konditorei Riedl, übrigens eine der besten im Vinschgau. Denn dort gibt es die „Glurnser Mäuse“ in Schokolade mit Marzipanfüllung zu kaufen. Die ich nur empfehlen kann.
LINKTIPP: Ich habe Details zum Prozess dem Buch „Beten, Impfen, Sammeln“ entnommen: https://univerlag.uni-goettingen.de/handle/3/isbn-978-3-938616-95-6
Danke, Werner, für diesen Beitrag und die tollen Bilder!
Es ist immer sehr spannend, deine Blogs zu verfolgen.
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servus reinhard, dein lob freut mich besonders. alles gute und xund bliieba.
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