Neugier als Triebfeder. Die Leidenschaften des Joe Bertsch

Das einstige hoch aufragende Schloss zu Thaur war vor einigen Jahren noch ein Geröllhaufen. Bis sich ein Mann der Sache annahm und einen Geschichtsverein gründete. Die Schlossruine erstrahlt inzwischen in saniertem Glanz, der Schlosshügel ist zum exklusiven Erholungsgebiet geworden. Und dem kleinen Museum mit den örtlichen Fundstücken wurde der Museumspreis 2020 verliehen.

Er war in den 70er Jahren einer der aufgehenden Stars am österreichischen Alpinisten-Himmel. Neben allen denkbaren Felswänden in den Alpen bezwang er in den USA zum Abschluss eines Studienaufenthaltes ‚The Nose’. Das ist die legendäre, 1.000 m senkrecht aufragende Granitwand des El Capitan im Yosemite-Nationalpark. Eine Wand, die damals in Europa nur Eingeweihten bekannt war. Die Eiger Nordwand? Logisch, dass auch sie die Liste seiner Gipfelsiege ziert. Er durchstieg sie mit einem Bergfreund noch schnell vor der Lehramtsprüfung. Die berühmten Spitzen und ‚Nadeln‘ der Westalpen? Logo. Die Dolomiten? Da hat er bereits als Jugendlicher 6er-Touren gemeistert.„Ich war bergnarrisch“ gibt der einst jüngste Bergführer Österreichs heute zu. Sein Name: Josef ‚Joe‘ Bertsch.

Bergtouren waren für Joe Bertsch in seiner Jugend quasi die Luft zum Atmen. Foto: J. Bertsch

‚Monsieur 30.000 Volt‘

Seine immer auf neue Höhepunkte zulaufende Alpinkarriere nahm allerdings ein jähes Ende. Ein tragischer Bergunfall in den französischen Alpen kostete ihn zwei Finger seiner linken Hand. Im Schneesturm durchstieß er mit seinen Steigeisen die Isolierung einer 30.000 Volt-Leitung, die versteckt  im Blockwerk des Gipfelgrates verlegt war. Es war das Starkstrom-Kabel für eine Seilbahnstation. „Normalerweise überlebt man das nicht“, lacht er heute. „Ich hatte Gottseidank die besten Bergschuhe mit Filzeinlagen, die mich vermutlich retteten.“

Zwei Tage lag er in Chamonix im Koma, dann haben sie ihn wieder ins  Leben zurück geholt.  Auf der Chirurgie in Innsbruck wurde mit großem chirurgischen Können seine linke Hand zumindest teilweise gerettet.  Mit dem Klettern war natürlich Schluss.

An der Wiege des Umweltschutzes in Tirol

Also wandte sich der frisch gebackene Professor für Englisch und Geographie – seine Schüler nannten ihn jetzt ‚3-Finger-Joe‘ – anderen Themen zu. „Eher aus Zufall unterhielt ich mich mit Freunden über die Transitlawine, die Tirol zu überrollen begann“ erzählt er. Als ‚Mann der Tat‘ hielt er sich aber nicht lange mit Diskussionen und theoretischen Überlegungen auf. Zu wichtig erschien ihm das Verkehrsthema. 

Bei der Gründung der ‚ARGE Lebensraum Tirol‘ – dem Dachverband der Bürgerinitiativen Tirols – war Joe an führender Stelle dabei. Von 1991-1997 führte er den Verband als Obmann und redigierte die Zeitung ‚Lebensraum Tirol‘. Als wäre das alles nicht genug war er  zeitgleich noch als Naturschutzwart beim Zweig Innsbruck des Alpenvereins aktiv. Zuviel vielleicht, wie er heute sagt. Erst als ihn ein ‚Burnout‘ streifte schaltete er einige Gänge zurück und agierte quasi piano.

Von nun an widmete er sich seiner neuen Heimatgemeinde Thaur, in die er mit seiner Familie 1984 gezogen war. Gewohnt hat er damals im rund 1000 Jahre alten Afrahof. Die Restaurierung der angrenzenden Ulrichkirche hat er über 15 Jahre mitverfolgt. „Für ihn war es eine Entdeckungsreise in die Thaurer Geschichte. Alles, was in der Bauforschung Rang und Namen hatte, stand damals vor seiner Haustür. Da wurden Hypothesen diskutiert und verworfen. Das war wie ein historischer Kriminalroman und ich war mitten drinn!“ Joe hat damals die Chance genutzt und wertvolle Kontakte für seine spätere Arbeit geknüpft.

Sechs Kinder haben Andrea und Joe Bertsch groß gezogen. Auf dem Bild v.l.n.r.: Joe, Andrea, Andreas, Eva, Maria, Christoph und Heidi. Anna fehlt am Bild. Bild: Familie Bertsch
Das Wohnhaus der Familie Bertsch in Thaur. Aus Details in der Fassade kann auf die politische Leidenschaft des Hausherren geschlossen werden.

Vom Bohren harter Bretter

Er wäre sich ja untreu geworden, hätte er sich nicht auch in Thaur für die Umwelt engagiert. Nicht zuletzt deshalb gründete er mit Freund_innen eine Dorfliste namens ‚Bürger In Thaur – BIT’. Weil er wusste, dass konkreter Umweltschutz auf lokaler Ebene beginnt. 

„Dorfpolitik ist das Bohren harter Bretter“ fasst Joe seine Tätigkeit als Gemeindevertreter zusammen.  Minderheit bleibt immer Minderheit.  Doch mit dem Wissen um Details, mit der Kenntnis wesentlicher Zusammenhänge und  überzeugender Argumentation lassen sich schon auch Erfolge erzielen.  Letztlich geht es darum, Wertschätzung für Natur und Dorf zu schaffen um in manchen Belangen ein Umdenken herbeizuführen“. 

Genau das hat Joe in seinen ‚Lehrjahren’ bei den Bürgerinitiativen gelernt. Er praktiziert es noch heute. Da ist’s kein Wunder, dass er sich intensiv der Raumordnung widmete, dem „Schlüsselbereich“ jeder Gemeinde. „Denn ein Fehler, der hier gemacht wird“ sagt er, „der pickt in alle Ewigkeit. Aber das ist oft Knochenarbeit bis zum geht nicht mehr“. 

Tahur
Im Zentrum von Thaur ‚lebt‘ die Geschichte noch. Diese traumhaften Bauernhäuser sind Ausdruck für die Wertschätzung des Baustils der Vorfahren.

Mit Geschichte die Zukunft bewältigen

Die intensiven  Diskussionen bei der Ulrichkirche haben in ihm das Feuer für die Geschichte von Thaur entfacht.  Schon bald begann es zu lodern. Der Auftrag, ein Dorfbuch für und über Thaur zu verfassen wirkte dann wie ein Treibsatz. Joe tat, was in Thaur bis dahin noch niemand getan hatte: er begann, die Geschichte systematisch aufzuarbeiten. Zuvor gründete er noch mit Gleichgesinnten den Geschichtsverein Chronos. Dessen Website übrigens hoch interessant gestaltet ist: http://www.chronos-thaur.at/

Es waren drei intensive Jahre, die er mit seinen Kolleg_innen von Chronos am Dorfbuch arbeitete. Mit Hilfe von Kurt Grubhofer vom Tiroler Landesarchiv gelang es schließlich, eine detaillierte Besitzgeschichte der Thaurer Häuser und Höfe ab 1600 zu rekonstruieren. Bertsch, einigermaßen stolz: „So was hat keine zweite Gemeinde in Tirol.“ Damit gelang den Orts-Historiker_innen ein wahrlich einzigartiger Coup. Denn ein Grundbuch gibt es erst seit 1900. Durch die  Auswertung der uralten Verfachbücher im Landesarchiv kann damit das detaillierte Aussehen von Thaur bis zurück in die Zeit um 1600 nachvollzogen werden.

Das Dorfbuch Thaur war Ausgangspunkt einer intensiven Beschäftigung des Vereins Chronos mit der Geschichte des Ortes. Hervorgehoben: adtaurane, die erste urkundliche Erwähnung von Thaur im Jahre 827.
Das Ergebnis akribischer Arbeit: Die Besiedelung des heutigen Zentrums um das Jahr 1600. Repro aus: Dorbuch Thaur

Heute schaut’s ziemlich anders aus. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen im Dorf haben sich geändert. Thaur ist in den letzten 70 Jahren rasant gewachsen und ist an den Rändern quasi ‚ausgefranst‘. All dies ist im Dorfarchiv dokumentiert.

Weshalb das wichtig ist? Joe schmückt sich nicht gerne mit Federn und dennoch sagt er: „Die  Kernzone eines Ortes ist seine Visitenkarte, vielleicht sogar die Seele. Die muss gehegt und gepflegt werden.“ In der Kernzone von Thaur kennt sich jedenfalls niemand so gut aus wie er, der damit bei Raumordnungsdebatten die Funktion eines stets mahnenden Fachmannes einnimmt. Eines ist für ihn klar: „Ohne ein grundsätzliches Verständnis für Geschichte und Kultur gibt es keine kluge und nachhaltige Dorfentwicklung!“

Das Ortszentrum von Thaur blieb bisher von den Verheerungen durch die Kahlschlags-Truppen der Spekulanten verschont. Das ist nicht zuletzt auf die Arbeit des Vereins Chronos zurückzuführen, der die Sinne der Bevölkerung für die Geschichte und Schönheit alter Gebäude geschärft hat.

Zwei Xi im ‚Exil‘

Jetzt sollte ich eigentlich noch schildern, wie ich Joe kennen gelernt hatte. Es war eine Recherche zum Thema Palmesel. Ein Brauchtum, das am Palmsonntag in Thaur und Rum seit je her hochgehalten wird. Joe konnte mir mit Fotos und Texten natürlich helfen. Hier nachzulesen. Solche Anfragen gehören wohl zum ‚Brot‘ eines jeden Dorfchronisten. 

In Thaur wird noch die Palmeselprozession zelebriert.

Bei meinen Recherchen vor Ort ist mir natürlich sofort der Klang seiner Sprache aufgefallen. Joe ist gebürtiger Vorarlberger aus Frastanz. Und so entwickelte sich aus der Bekanntschaft eine Freundschaft von Quasi-Exilanten aus Xiberg. Uns verbinden zwei Eigenschaften: historische Neugier und eine, vielen Vorarlbergern quasi angeborene Tatkraft bei der konkreten Umsetzung von Projekten. Dass wir politisch ähnlich sozialisiert wurden tut ein Übriges. Beide landeten wir nicht zuletzt aufgrund unserer jugendlichen Umweltaktivitäten schlussendlich bei den Grünen.

Die Neugier als Triebfeder

Seine wahre Leidenschaft wird von der Neugier befeuert. Nicht etwa wer mit wem und wann. Sondern die Neugier, was denn in seinem Wohnort Thaur in der historischen Vergangenheit war. Es ist diese Neugier, die ihm und seinen Chronos-Mitstreiter_innen kürzlich den Tiroler Museumspreis beschert hat. Ein Verein, der mit Sicherheit zu den interessantesten und aktivsten örtlichen Kulturvereinen Tirols zählt.

Der Vorstand des Geschichtsvereins Chronos Thaur ist mit Recht stolz auf den Museumspreis.
Joe Bertsch mit Bürgermeister Christoph Walser, der Landesrätin Beate Palfrader und dem Chef des Bundesdenkmalamtes Tirol, Dr. Walter Hauser.

Das Thaurer Schloss 

Die Recherchen zum Dorfbuch hatten die Chronos-Aktivist_innen hochgradig motiviert. Unverzüglich stürzten sie sich auf das nächste Projekt – das Thaurer Schloss. In Wirklichkeit waren es nur noch ein paar bröckelnde Mauern, überwuchert von Bäumen und Sträuchern. „Die Ruine war mit Stacheldraht abgezäunt und hatte keinerlei Stellenwert mehr“ erzählt Joe. „So manchem wäre es vermutlich lieber gewesen, die letzten Mauern einzuebnen anstatt noch einen Euro zu investieren!“

Der Blick durch die diese beiden Bögen der Schlossruine Thaur hat bereits Kultstatus und lockt immer mehr Besucher_innen an.

Auf Vorschlag von Dr. Walter Hauser vom Denkmalamt erstellte Joe ein 10-Jahres-Konzept. Und da er als Lehrer im Sommer genügend Zeit hatte, konnte er sich auch handwerklich betätigen. Aber: Denkmalschutzgelder werden nur dann bezahlt, wenn die Erhaltungsmaßnahmen von Fachleuten ausgeführt werden. „Aber zum Glück stand uns  mit dem Thaurer Künstler und Bildhauer Franz  Brunner ein echter ‚Steineversteher‘ zur Verfügung, der vom Denkmalamt akzeptiert wurde und ohne den wir die Sanierung der Ruine nie geschafft hätten“ resümiert Bertsch heute. 

Joe erklärt mir, wie und mit welchen großen Anstrengungen die Sanierung der Ruine erfolgte.

Die Besucher_innen stehen bei einem Besuch der Schlossruine indes nicht wie die legendären ‚Ochsen vor dem Berg‘. Im Gegenteil. Neben der Website wurde wurde für interessierte Besucher auch gleich ein App entwickelt, die zur eigenständigen Erkundung des Schlossbichls vor Ort anregt. Auch hier darf Chronos als Vorbild für andere Kulturdenkmäler in Tirol gelten.

Die vom Verein initiierten Ausgrabungen am Schlosshügel brachten auch völlig neue Erkenntnisse zu Tage. Wie etwa die Auffindung des Bades von Kaiser Maximilian. Doch nicht genug damit. Unter dem einstigen Boden des Maximilianbades kamen noch ältere Mauerreste zum Vorschein. 

Hier befand sich das Bad des Kaisers Maximilian. Auch als Fremdenführer ist Joe eine Kapazität.

Die unglaubliche Geschichte eines Kunstprojektes

Der Wiener Künstler Rainer Prohaska wandte sich 2018  an Chronos mit der Bitte, bei einem archäologischen Projekt mitmachen zu können. Er plante eine Kunstaktion zur Feier des 500. Todestages von Kaiser Maximilian, bei der er Kisten vergraben wollte, die dann bei der Grabung „entdeckt“ würden. Die Story: Maximilian hätte seiner Vertrauten  LVISE von Savoyen die mit Kunstwerken befüllten Kisten geschenkt, die dann aber verloren gegangen seien. 

Chronos sollte also die Kisten vergraben, um sie dann im Zuge des Kunstprojektes wieder ausgraben zu können. Und es wäre nicht Joe Bertsch, hätte dieser nicht haargenau überlegt, wo die Kisten eingegraben werden könnten. „Wir hatten ja einen Verdacht,wo noch Mauerreste zu entdecken wären.“ Und da er alle öffentlichen Fördertöpfe schon aufs Äußerste strapaziert hatte, machte er dem Künstler den Vorschlag, etwaige Kosten für die Dokumentation der Grabung im Kunstprojekt einzukalkulieren. Gesagt getan.

Ausgrabungen am Schlosshügel förderten Tirols ältesten romanischen Mauerreste zutage.

Bingo

Die unglaubliche Geschichte führte schließlich nicht nur zur Entdeckung der Badstube Maximilians, sondern in weiterer Folge zur Auffindung der romanischen Grundmauern des ‚Burggrafenturms‘, der zwischen 1210 und 1230 gebaut worden war. „Hier heroben liegt Archäologie auf noch älterer Archäologie!“ meint Joe Bertsch verschmitzt. „A bissl wie in Troja!“  

Die Ausgrabungen am Schlosshügel brachten überraschende Ergebnisse. Unter Maximilians Badstube wurden die Mauern eines mittelalterlichen Turmes ausgegraben.

Dass dem Joe die Arbeit ausgeht, ist absolut unwahrscheinlich. Denn der Schlosshügel von Thaur dürfte noch mehr Geheimnisse bergen. Zudem gibt es ja noch den Kiechlberg. Auch er hält auch noch Geheimnisse parat, die Joe lösen will. Die neolithische bis frühbronzezeitliche Siedlung des Hügels ist belegt. Nicht aber, weshalb Mauerreste aus der Zeit um 1000 n. Chr. vorhanden sind, die derzeit noch nicht eindeutig zuzuordnen sind. 

Mauerrste am Kiechlberg, hoch über Thaur. Was sich da oben befand ist noch nicht abschließend geklärt. Ein Rätsel, das Joe Bertsch mit Sicherheit auflösen wird.

Und dann ist da ja noch die Geschichte des Heiligen Romedius, der in Thaur hoch verehrt wird. Auch hier hat Chronos die Initiative ergriffen. Auf Einladung des Vereins stellte Dr. Walter Landi, ein Mittelalterspezialist aus Südtirol neue Erkenntnisse zur Person des Romedius vor. Kurz zusammengefasst: Der Mann ist sehr wohl eine historische Figur und keine Legende. Er stammte aus einem bayerischen Geschlecht, das Besitzungen in Bayern, im Inntal und im Raum Trient hatte. Romedius dürfte ein hochgebildeter Mann gewesen sein, der die Geschäfte für seine Familie geführt hatte. Die einige Jahrhunderte später aufkommende Mode, ‚Heilige‘ in seiner Familie zu finden, könnte die Nachfahren seiner Sippe angetrieben haben, diesen zum ‚Familienheiligen‘ ernennen zu lassen. Und damalss konnte  der Bischof von Trient solches auch tun. 

Der Heilige Romedius auf einem Wandfresko in Thaur. Die Herkunft des Heiligen dürfte nun geklärt sein.

Und so ist der Museumspreis für Chronos eine offizielle Belohnung dafür, nicht nur alte Gemäuer vor dem totalen Zerfall gerettet zu haben, sondern die Fundstücke auch in einem einzigartigen Rahmen in ihrem Kleinmuseum „RUNDUMthaur“ im Obergeschoss des Romediwirts zu präsentieren. Es ist ein Kompliment für die Arbeit des Vereines, Licht ins mittelalterliche Dunkel von Thaur gebracht zu haben.

Wer jedoch die unerschütterliche Tatkraft des Chronos-Obmanns kennt, der weiß, dass da noch nicht aller Tage Abend ist.