Eine Bergspitze ohne Gipfelkreuz? Ja, auch das gibt es in Tirol. Und zwar im Valsertal.
Die ‚Hohe Kirche‘ im Valsertal gehört mit Sicherheit zu den außergewöhnlichsten Bergen unseres Landes. Allein: der Name ‚Kirche‘ – er kommt von der Form des Berges, der einem Kirchendach gleicht – greift für mich etwas zu kurz. Für mich ist der Berg eine atemberaubende Kathedrale, die durch die künstlerische Ausgestaltung von Erich Gatt an uralte Beispiele vorchristlicher Kulturen und deren tiefe Religiosität erinnert. Vor allem was den Gipfel anlangt.
Endlich aufgerafft…
Schon seit Jahren wollte ich diesen Berg besteigen. Ausreden wie ‚das Wetter ist zu schlecht‘ oder ‚mir scheint der Aufstieg ist zu rutschig‘ vergaß ich dieses Jahr. Ich bestieg erstmals die Hohe Kirche. Und erlebte nach dem einzigartigen Aufstieg den wohl schönsten Berggipfel Tirols.

Das Quellwasser am Fuß der Hohen Kirche gehört zu den besten Wässern, die auf der Zeisch entspringen, sagt Erich Gatt.
Lesesteine werden zu Kunstwerken
Seit Jahren kenne ich nun die Zeischalm und deren ‚Oberhirten‘ Erich Gatt. Ich habe ihn in einigen Blogbeiträgen bereits beschrieben. Seit Jahrzehnten kümmert er sich schon um die Alm. Er passt im Sommer für die Bauern auf deren Tiere auf, versorgt sie mit Salz und schaut täglich dazu, dass kein Tier zu schaden kommt. Er hält auch den Weg vom Inneren Valsertal zur Zeisch seit Jahrzehten offen und pflegt ihn mit Hingabe. Was er darüber hinaus all die Jahre mit Leidenschaft tat und immer noch tut: die Steine von der Almfläche ‚aufzulesen‘ und sie dann – sozusagen gesammelt – zu einem kleinen Kunstwerk aufzuschlichten. Damit vergrößert er die Grasfläche auf der Alm und sorgt auch dafür, dass sie nicht irgendwann einfach ‚zuwächst‘. Was er mit den ‚Lesesteinen‘ dann aber tat und tut, macht ihn heute bekannt. Seine Steinskulpturen erregten in den letzten Jahren einige Aufmerksamkeit in Kunstkreisen. Selbst die Tirol-Werbung hat ihm einen wunderschönen Blogbeitrag gewidmet.
Seine bis zu knapp fünf Meter hohen ‚Stoamandle‘, seine Trockensteinmauern und -Gebäude sind inzwischen als Landart-Kunstwerke anerkannt. Hunderte Meter Trockensteinmauern, eine Freilicht-Stein-Dusche. Viele über die Alm verstreute Menhire, ein Kraftstein und ein kleiner Gletscherwasser-See sind Belege einer künstlerischen Tätigkeit, die er sich selbst gar nicht zutraut.
Dass Erich aber auch einen Berg künstlerisch und ‚wegtechnisch‘ erschlossen hat, war auch mir lange nicht bekannt. Wer nun die Mühen nicht scheut, zum Gipfel der Hohen Kirche aufzusteigen, kommt in den Genuss eines einzigartigen Kunstwerkes, das sich vom Fuß des Berges bis hin zum Gipfel erstreckt. Und dort erwartet die Bergwanderer zu alldem noch eine ungewöhnliche Überraschung.
Den Weg zur Hohen Kirche muss man selber suchen
Ich machte mich an einem schönen Sonntagsmorgen also von der Zeischalm auf zur Hohen Kirche. Einen beschilderten Weg dort hinauf gibt’s nicht. „Man muss ihn halt selber suchen“, sagt mir Erich lachend und deutet eine Lärche an, von der aus man den von ihm vor 30 Jahren in den Hang gebauten Weg sieht. „Meine Frau Monika und ich haben damals mit unseren Kindern vor 30 Jahren den Berg öfters bestiegen, obwohl da kein Weg hinauf führte“ erzählt er mir. Bis es Monika zu blöd wurde und sie Erich den Vorschlag machte, er möge doch durch die steilsten Abschnitte so was ähnliches wie einen Weg machen. Gesagt getan. Aber ein biederer, normaler Weg wäre ihm doch zu einfach und vor allem nicht schön genug erschienen. Erich Gatt gehört zu jenem Menschenschlag, der Perfektion und Schönheit über alles liebt. Und der keine Mühe scheut, dies im täglichen Leben umzusetzen.
Und so wurde aus dem Weg auf die Hohe Kirche ein lang gezogener Eingang in eine Kathedrale der Natur, deren Höhepunkt die kunstvoll gestaltete Gipfelregion darstellt. Sie widerspiegelt die Grundeinstellung des Künstlers Erich Gatt: alles ist beseelt, das Wasser, die Berge, die Natur und natürlich auch die Steine. „Die wirken nicht, wenn sie irgendwo herumliegen“ sagte er mir schon vor Jahren auf meine Frage, weshalb er Menhire (das ist das keltische Wort für einen stehenden Stein) aufstelle. So wird denn der Weg auf die Hohe Kirche von Menhiren aus Granit gesäumt, deren Wertigkeit in ihrer Schönheit liegt. Es ist eine Art Wallfahrt durch die solcherart belebte Natur, die man durch zwei Menhire ganz unten am Rücken des Berges beginnt, die eine Art Tor bilden.

Das ‚Eingangstor zur Hohen Kirche: zwei Menhire vor dem wunderbaren Anblick des Valsertales und der Berge der Stubaier Alpen.
Beeindruckend für mich sind vor allem vier Steine, die auf der Hälfte des Weges wie riesige Bergkristalle in den Himmel ragen. Die schmalen, spitz zulaufenden Granitplatten sind auch und vor allem ein Zitat ihrer allernächsten Umgebung. Die ist nämlich geprägt von grotesken Felszacken, messerscharfen Graten und tiefen Klüften. Die vier Steine sind eine Art Widerhall ihrer Umgebung. Und gleichzeitig erscheinen sie mir wie Wächter, die das rund 1.000 m tiefer unten liegenden Valsertal zu schützen scheinen.

Wie ein Bergkristall ragen vier Menhire in den Himmel des Valsertales. Von Erich Gatt mit viel Gefühl für die Umgebung und die Landschaft errichtet.
Treppenstufen ins ‚Allerheiligste‘
Wer dann den riesigen Felsbrocken am Rücken der Hohen Kirche erreicht hat, sieht seinen Weg vorgezeichnet. Denn hier stehen kleine Menhire, die Wanderern auch noch bei Nebel Orientierung sind. Immer wieder erleichtern Steinstufen den Aufstieg. Einmal führen sie über eine Kleine Blockhalde, ein andermal überwinden sie steiles Gelände. Sie vermitteln auch das Gefühl, sich dem eigentlichen Kernbereich dieser Kathedrale zu nähern, der urplötzlich auftaucht. Wie durch ein schmales Tor betritt man, vorbei an einem grotesk zerklüfteten riesigen Stein und einem im Felsen deponierten Bickel, quasi das Allerheiligste dieses Berges, die Gipfelregion.

Die ‚Kleine Kirche‘ ist so etwas ähnliches wie eine Pforte zum Gipfel. Rechts im Fels hängt zur Erinnerung jener Pickel, mit dem Erich Gatt den Weg gemacht hatte.
Wer nun aber ein Gipfelkreuz als Höhepunkt erwartet, täuscht sich gewaltig. Drei große Stoa-Mandle bilden ein Spalier, das direkt auf das eigentliche Zentrum des Berges hinführt. Rechts eine wunderschöne Christusfigur in einem oben gesprengten Holzrahmen, eine Bank (oder einen Altar?) deren Basis über und über mit kristallinen Steinen geschmückt ist. Erich Gatt bezeichnet dies als ‚Sitzbank‘, die es sonst auf keinem Gipfel gebe. Diese Bank birgt auch ein Geheimnis, das nur wissende Bergwanderer kennen. Eine seitlich unter der Bank befindliche kleine Tür aus Edelstahl schützt zwei Dinge: das Gipfelbuch und – zur Überraschung vieler Bergfreunde – eine Flasche Aquavit.
Der höchste Punkt des Berges hingegen ist frei geblieben. Mit Absicht, sagt Erich Gatt. Denn dieser höchste Punkt gehöre nur dem Berg. Und von hier aus ist der Blick auf die Berge der Zillertaler Alpen absolut grandios und überwältigend. Olperer und Fussstein, Schrammacher und Sagwand bilden ein monumentales Panorama, das die Hohe Kirche vollends zur Kathedrale adelt. Es ist wie ein paradiesischer Chor, der sich um den Gipfel des Berges schmiegt und dieses unvergleichliche Naturschauspiel abrundet.
Ich habe lange nachgedacht, weshalb ich von diesem Gipfel so angetan bin. Es ist die blütenweiße Christus-Statue, die hier vor den mächtigen Dreitausendern steht und deren gebrochener Rahmen die Himmelfahrt symbolisiert. Hoffnung und Schönheit auf einem Punkt konzentriert. Ein Youtube-Video (© Kai Laborenz) zeigt wunderschöne Aufnahmen vom Gipfelbereich.
Dass ich dieses Bergerlebnis einem einzelnen Mann und seinen Freunden verdanke, die ihm beim Anlegen des Weges geholfen haben bringt mich auf eine Idee: Weshalb sollten wir den auf die Hohe Kirche Weg nicht ‚Erich-Gatt-Weg‘ nennen zu Ehren eines Mannes, der wie kaum ein anderer die Landschaft im Innere Valsertal mitgeprägt hat?
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