St. Georg ob Tösens: Das mystische Kirchlein

Im Sommer liebe ich es, in Tirol das Außergewöhnliche zu suchen. Im Oberen Gericht bin ich fündig geworden: Die St. Georgskirche ob Tösens ist eine Perle.

Auf meinem heurigen, persönlichen Wanderkatalog stand das gotische Kirchlein ob Tösens (aber auf dem Gemeindegebiet von Serfaus) ganz oben. Stand. Denn ich habe dieses Juwel gotischer Baukunst zu Fuß aufgesucht. Wie es sich für Kulturwandersleute eben gehört.

Allseits bekannt ist ja, dass ich für die Anfahrt zu meinen Exkursionen in Tirol ausschließlich öffentliche Verkehrsmittel nütze. So auch im Fall der Kirche St. Georg. Von Landeck aus ist Tösens mit dem VVT-Bus in kurzer Zeit zu erreichen. Ausgangspunkt ist die Haltestelle beim Gemeindeamt Tösens. Hier beginnt die Wanderung (für viele Menschen die Wallfahrt) zum Kirchlein.

Römerbrücke Tösens

Die Römerbrücke in Tösens stammt in Wahrheit aus dem Mittelalter und ist von der Innbrücke aus gut sichtbar.

Erst einmal überqueren die Spaziergänger den Inn bei der Römerbrücke, die oberhalb der Straßenbrücke gelegen eine kleine Schlucht überspannt. Die Brücke stammt zwar aus dem Mittelalter, ist aber vermutlich dennoch die älteste noch erhaltene Brücke Tirols. Nach überqueren der Innbrücke beginnt dann der Aufstieg.

Meine Suche nach dem ‚Pyramidenberg‘ beginnt

Die Kirche liegt etwa 150 m oberhalb von Tösens auf etwa 1100 m Seehöhe. Der Fußweg ist in gutem Zustand und leicht zu bewältigen. Was ich besonders schätze: Wie auch bei anderen, abgelegenen Tiroler Sehenswürdigkeiten taucht das Kirchlein nach etwa 1/2 Stunde Aufstieg urplötzlich zwischen den Bäumen auf und strahlt in der Mittagssonne.

St. Georg, Tösens, Serfaus

Die St. Georgskirche thront majestätisch über dem Fußweg.

St. Georg von der anderen Talseite aus betrachtet. Bild: wikipedia/braveheart

Wie bei vielen anderen alten Kirchen in Tirol steht St. Georg auf einem offenbar ganz besonderen Platz. Es scheint, als dass eine erste romanische Kirche an dieser Stelle überbaut worden ist. Aber die Frage bleibt: weshalb ausgerechnet hier, wo sichtbar keine alte Straßenverbindung bestanden hatte. Ja, das hat etwas mit dem Pyramidenberg zu tun.

Das St. Georgskirchlein mit seinem auffälligen Glockenturmaufsatz aus Holz.

Ich behaupte seit Jahren, dass viele Wallfahrtskirchlein in Tirol auf vormaligen rätischen Kultplätzen errichtet sind. Die Räter, ein irgendwie

Dieses Ölbild in der Vigilkirche in Obsaurs stellt die 3 Saligen Fräulein dar.

noch immer mysteriöses Völkchen oder besser gesagt eine Kultur- und Religionsgemeinschaft die einst in der östlichen Schweiz, in Südtirol und im westlichen Tirol lebte – verehrten eine Trinität weiblicher Gottheiten. Also jene Dreifaltigkeit, die von den Christen dann lediglich männlich definiert worden ist, während die ‚göttlichen Weiberleute‘  dann zu den ‚3 Seligen Fräuleins’ umgedeutet worden sind. Ich behaupte zusätzlich, dass auffällig-dreieckige Bergspitzen (in Tirol die Serles, der Tschirgant oder die magische Viggarspitze) quasi den natürlichen ‚Hochaltar‘ rätischer Kultplätze darstellten. 

Eine pyramidale Bergspitze ist mir denn auch sofort ins Auge gestochen: der Lahnkopf. Nach einem erneuten Rundblick tauchte dann noch eine 2. dreieckige Bergspitze auf: der Schmalzkopf. Beide südlich und südwestlich der St. Georgskirche gelegen.

Der Lahnkopf (links) und der Schmalzkopf (rechts) entsprechen den rätischen Vorstellungen von Trinität und dienten dem Kultplatz quasi als Hochaltar.

St. Georg und der Drachen

Ein weiterer Hinweis, dass die Kirche an einem ausgesprochen ‚heiligen‘ Platz der Räter steht ist die Benennung des Kirchenpatrons. Denn St. Georg taucht überall dort auf, wo der Drache einst zuhause war. Und der Drache – das waren die prähistorischen Religionen, die zu bekämpfen waren. In diesem Fall ganz sicher der Glauben der Räter mit drei Frauen an der Spitze. Das ginge nicht einmal heute in der Kirche durch…

St. Georg, Tösens

Quasi formatfüllend dargestellt ist natürlich der Hl. Georg, wie er den Drachen des Unglaubens tötet. In der Höhle daneben reift aber schon die Brut.

Die erste urkundliche Erwähnung findet die Kirche 1429. Als sicher gilt aber, dass sie auf einem romanischen Vorgängerbau aus dem 8. und 9. Jhdt. errichtet worden ist, an den noch eine Flachdecke aus Holz in romanischem Stil erinnert.

Kircheninneres St. Georg Tösens

Der Blick in den mystisch beleuchteten Chorraum der Kirche. Rechts: der spätgotische Flügelaltar.

Kirchenschlüssel St. Georg Tösens

Noch massiv geschmiedet: der gotische Schlüssel zur Kirche.

Und so holte ich nach einiger Suche den Schlüssel beim Bauern (Familie Roman Müller) in jenem Haus, das am höchsten über dem Kirchlein liegt. Der Eintritt in die Kirche ist dann etwas wirklich Besonderes. Was für uns ‚moderne‘ Menschen irgendwie erwartbar ist, war für die Menschen des Mittelalters ganz sicher überwältigend. Die Kirche ist über und über mit gotischen Fresken versehen. Ein wunderschöner, kleiner gotischer Flügelaltar ergänzt dieses von mir so geschätzte gotische Ambiente ideal. Das Licht, das durch die schlanken gotischen Fenster in das Kircheninnere fällt hüllt den Gebetsraum in ein mystisches Halbdunkel. Dann kann man damit beginnen, die Fresken näher zu betrachten.

Bibel-Comic vom Allerfeinsten

Ohne auf die Details einzugehen: es ist vor allem die Leidensgeschichte Christi, die hier für die des Lesens und Schreibens meist unkundigen Gläubigen dargestellt ist. Ein Bibel-Comic quasi. Nicht fehlen darf natürlich der Kirchenpatron St. Georg, der an der Südseite einen Lindwurm ausschaltet. Bei genauem Hinschauen sieht man aber schon die Brut des Ungetiers in einer Höhle. Womit dem Heiligen die Arbeit nicht ausgehen dürfte. Nach dem Motto: Das Böse ist immer und überall. Etwas eher seltenes betrifft den Meister, der die Fresken gefertigt hatte. Er verewigte sich in einem Porträt mit den Worten: „1482 das Gemel hat gemacht max maller von innspruck“ und wird dem Maler Marx Donauer zugeschrieben.

St. Georg

Der Kreuzweg Christi auf der Westseite des Kirchenschiffs samt der Holzdecke in romanischem Stil.

Der Heilige Christophorus ist an der Südwand innen und sogar außen vertreten. Aber: die Darstellung des Heilige Christophorus fehlt in Tirol in kaum einer Kirche. Der bekannte Tiroler Volkstumsforscher Prof. Hans Haid begründet dies damit, dass der Heilige ein Patron der Reisenden gewesen ist. Und da Tirol schon immer ein Transitland war, müsse man sich über dessen Darstellung nicht wirklich wundern.

Reliquien im Hochaltar

Weshalb aber wurde St. Georg zu einer Wallfahrtskirche? Bei näherem Erkunden des Chors der Kirche ist eine vergitterte Nische ersichtlich. Und

Reliquienschein St. Georg, Tösens

Der Reliquienschrein steht heute im Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck. Foto: wikipedia/bobo

hier stand vermutlich ab 1270 ‚des Pudels Kern‘: ein Reliquienschrein. In einem mit Tempera bemalten hölzernen Reliquienkästlein wurden Gebeine, Zähne, Haare und Kleidungsstücke von Heiligen aufbewahrt.

Teile davon angeblich auch vom Hl. Georg und nicht genauer bezeichneten heiligen Frauen. Und dies könnten die drei legendären ‚Saligen Fräulein‘ gewesen sein. (Siehe auch meinen Blogbeitrag dazu.) Das Christentum hatte es ja blendend verstanden, die rätischen Glaubenssätze umzudeuten und für sich zu nutzen. Das Reliquienkästlein steht aber heute aus Sicherheitsgründen im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum. Die Reliquien selbst wurden im Jahre 1680 in den barocken Hochaltar eingearbeitet.

Der gotische Flügelaltar

Der zierliche, im rechten Teil befindliche gotische Flügelaltar zeigt die Figuren der Heiligen Anna selbdritt, Joachim und Sebastian. Anna selbdritt: das ist die Darstellung der Hl. Anna mit ihren Töchtern Maria und dem ‚Enkelkind‘ Jesus.  Interessant auch das ziemlich brutal dargestellte Martyrium der Ursula, das so heutzutage zum Beispiel in Facebook nicht durchgehen würde. Ergänzt wird der malerische Bogen durch die Kreuzauffindung der Helena und unterhalb des Altars Veronika mit dem Schweißtuch.

St. Georg, Tösens

Der spätgotische Flügelaltar von St. Georg.

Und zum Abschluss: die Suche nach den Grafittis

Für mich ist es immer wieder erbaulich, in solchen Kirchen mittelalterliche Kritzeleien mit Rötelstift zu suchen. Und in St. Georg wird man bald fündig, hinter dem Altar. Da haben sich verschiedene Narrenhände verewigt, die ja bekanntlich ‚verschmieren Tisch und Wände‘. Die Grafitti belegen auch, dass nicht nur Analphabeten das Kirchlein besuchten. Auch grafisch talentierte Kritzler befanden sich unter den möchte-gern-Künstlern.

Ausklang am Hofaster in Untertösens

Ich unterbrach meinen Abstieg nach Tösens in Untertösens und besuchte den von mir sehr geschätzten Bio-Bauern Christian Sturm auf seinem ‚Hofaster‘ in Untertösens, nicht unweit der Römerbrücke. Er hat eine uralte Tiroler Gerstensorte vor dem endgültigen Verschwinden gerettet, die heute vor allem im ‚Tyroler‘-Bier der Zillertaler Brauerei genossen werden kann. Details dazu in meinem Buch: „50 Dinge, die ein Tiroler getan haben muss“, erhältlich hier.

Der Hof Aster beherbergt auch ein Bauernladele, in dem es die regionalen Spezialitäten der Regionen gibt. Und an dessen Produkten Feinschmecker_innen nicht vorbeikommen. Prädikat: Exzellent.

Und noch was: der Hof besitzt eine restaurierte, alte Mühle, ein Pilzhaus, einen Kultstein und alte Geräte, wie sie früher in der Landwirtschaft eingesetzt worden sind. Was das heißt? Ein Besuch bei Christian Sturm ist überaus kurzweilig und vor allem interessant.