Der archaische Zug der Schafe: die Transhumanz

In der ersten Junihälfte wandern die Südtiroler Bauern jedes Jahr mit ihren Schafen auf die Hochweiden im Hinteren Ötztal. Ein Ereignis, das man einmal im Leben gesehen haben sollte. 

Die ‚Transhumanz’, wie die Wanderung von Mensch und Tier zu entfernten Futterplätzen bezeichnet wird, zog mich schon immer in ihren Bann. Diese archaische Art und Weise, Weidetiere über mehr als 40 Kilometer von Südtirol aus auf die Weiden im Ötztal zu begleiten, ist absolut faszinierend. Schade, dass nur wenige Tiroler_innen diesen Schaftrieb je vor Ort gesehen haben, geschweige denn mitgewandert sind. Aber vielleicht erwarte ich zu viel von jenen Personen, die in Bierzelten zwar inbrünstig mit der Hand am Herzen und bisweilen mit Tränen in den Augen – meist in Fantasie-Trachten gekleidet – dem Tirolerland die Treue schwören. Diese Herrschaften kennen wahres Brauchtum entweder gar nicht oder wissen es nicht zu schätzen. Obwohl die Transhumanz zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe gehört.

Transhumanz im Ötztal

Prof. Dr. Hans Haid im Jahre 2014 in Erwartung der Südtiroler Schafe auf der Kaser ob Vent. Prof. Haid war maßgeblich daran beteiligt, diesen Schaftrieb als immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe festzuschreiben. Links im Bild: der bekannte ‚Schafmenhir‘, quasi die Grenze der Südtiroler Besitzungen im Ventertal.

Sicher, meine Bekanntschaft mit Prof. Dr. Hans Haid hat mich für die Transhumanz von Südtirol nach Vent sensibel gemacht. Der renommierte Volkskundler hat sich in vielen seiner Bücher mit diesem jährlich wiederkehrenden Ereignis beschäftigt.  Es handelt sich dabei um eine Wanderung, die seit Jahrtausenden aus mehreren Gründen praktiziert wird. Vor allem aber ist es die unterschiedliche Niederschlagsmenge nördlich und südlich des Alpenhauptkammes, die diese Wanderung ausgelöst hatte. Denn der Vinschgau ist als ‚Trockental‘ bekannt, während die Weiden nördlich der Alpen aufgrund der höheren Niederschlagsmengen schon immer wesentlich saftiger waren. Und das ist heute noch ein gewichtiger Grund der Transhumanz.

Ich habe mich bereits vor 20 Jahren den Bauern und Hirten quasi als freiwilliger Helfer angedient, als diese von Schlanders aus mit hunderten von Schafen zuerst über das Taschenjöchl nach Vernagt und am nächsten Tag über das Niederjoch bis zur Kaser ob Vent gezogen sind. Ich wollte schon damals spüren wie es ist, auf uralten Wegen mit einer Riesenherde  von Schafen unterwegs zu sein. Und ich lernte wie es ist, Schafe bei der Stange zu halten. 

Transhumanz Schafe Ötztal

Schafe bei der Transhumanz vom Vinschgau ins Hintere Ötztal

Heuer wollte ich meine Erinnerungen an die archaische Transhumanz auffrischen. War es immer noch dieses einzigartige Gefühl, Teil eines uralten Brauches, ja eines Rituals zu sein? Sind es noch immer die kleinen, drahtigen Hunde der Südtiroler Bauern, die vom Weg abweichende Schafe wieder zum rechten Weg zurückbringen? Und: existiert der Similaungletscher überhaupt noch?

Und da die Bauern und Hirten schon in aller Herrgottsfrüh’ von Vernagt im Schnalstal aus aufbrechen reiste ich am Vortag an und stieg in einem der ältesten und renommiertesten Häuser des Ortes ab, im Hotel Edelweiß. Ich hatte eine hervorragende Wahl getroffen. Denn offenbar ist die Küche des Hauses wild entschlossen, schon bald eine oder mehrere Hauben im Gault-Millau zu ‚erkochen‘. Ich würde jedenfalls die Qualität des Essens mit ‚hervorragend‘ bewerten und kann das Edelweiß speziell für „Sheep-Watcher“ aus ganzem Herzen empfehlen.

Ein Marterl im Tisental. Da wird der Segen für die Tiere erbeten.

Und tatsächlich, schon um vier Uhr weckte mich der Klang der kleinen Glöckchen der Schafe. Noch im Dunkeln zog die erste Gruppe hinauf ins Tisental und weiter in Richtung Similaunpass. Vorbei an den uralten Tisenhöfen geht’s bergauf. Insgesamt sind 1.300 Höhenmeter zwischen Vernagt und dem Similaunpass zu überwinden.

Die rund 1.200 Schafe, die heute die Überschreitung des Niederjochs, also des Similaunpasses in Angriff nehmen, werden in vier Gruppen aufgeteilt. Ansonsten könnte es zu einem ‚Stau‘ beim Aufstieg kommen, der unweigerlich ein Chaos nach sich zöge. Aber so haben die kleinen Hirtenhunde der Bauern kein Problem, die Herden unter Kontrolle zu halten.

Es dauert etwa neun Stunden, bis Hirten und Herden auf ihren Hochweiden oberhalb von Vent angekommen sind. Und ich geb’s zu: ich war ziemlich erschöpft nach dieser Überquerung des Alpenhauptkammes. Denn die zurückzulegende Strecke ist – wenn ich meinem App Glauben schenken darf – doch stattliche 25 km lang.

Similaunhütte, Transhumanz

Eine der vier Herden hat den Fuß des Similaunpasses erreicht. Von nun an schlängelt sich der aus Schafen bestehende ‚Tatzlwurm‘ bis auf 3.000 m hoch. Zur Similaunhütte.

Transhumanz, Tisental und Niederjoch

Die Schafe beim Aufstieg.

Aufstieg zum Similaunpass Transhumanz

Dass die Tiere schwindelfrei sind, ist ein Segen. Sie wandeln nahe am Abgrund, der bisweilen hunderte Meter senkrecht abfällt. Für die majestätische Schönheit des von Gletschern ausehobelten Tisentales und des Vernagter Stausees haben die Tiere naturgemäß wenig Interesse.

Schafe vor der Similaunhütte

Eine kurze ‚Kletterstrecke‘ ist für die Schafe keinerlei Problem. Sie überwinden diesen felsigen Part am Weg zur Similaunhütte quasi mit ‚links‘, teils sogar im Galopp.

Similaunpass, Transhumanz

Es ist geschafft. Die Herde erreicht mit ihren Hirten das Niedertal und ist somit auf österreichischem Gebiet.

Dort wo die Schafe rasten war einst ein Gletscher. Heute erholen sich die Tiere vor der Similaunhütte am ‚Trockenen‘. Aber auch der Hirte braucht Erholung…

Similaunpass Schafe

Der Similaungletscher existiert zwar grad noch, aber er reicht schon lange nicht mehr bis zur Similaunhütte. Und wieder wird die Herde wie ein Tatzelwurm ‚auseinandergezogen‘.

Martin Busch Hütte

Die Tiere sind hungrig, wenn sie die ersten Almwiesen erreichen. Sie genießen das teils schon neue, saftige Gras wie hier beim Samoar-Haus, der Martin-Busch-Hütte.

Hirtenhund Transhumanz

Die Transhumanz ist für die Hirtenhunde der Höhepunkt des Jahres. Sie haben alle Pfoten voll zu tun, um die in der Gegend herumirrenden Schafe zwei Tage lang zusammen zu halten.

Schäferhütte Niedetal Vent

Von der Schäferhütte aus ist’s dann nicht mehr weit bis zur Kaser oberhalb von Vent.

Kaser Vent Niedertal

Die Kaser ist die Endstation der Transhumanz. Hier genießen die Tiere nun das saftig-grüne Gras.

Nicht nur die Alm-Auffahrt der Schafe ist für Hirten und Bauern ein Ereignis. In Vernagt im Schnalstal wird auch die Heimkehr der Herden im Herbst ausgiebig gefeiert. Heuer wird die Rückkehr voraussichtlich am 10. September erfolgen. Informationen über die Heimkehr der Schafe finden sich HIER.

Mein Reisetipp: Das Schnalstal ist locker und flockig mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Von Innsbruck aus ist man in drei Stunden mit Bahn und Bus gemütlich und gepflegt in Vernagt.

Interessantes im Schnalstal: Ich würde unbedingt empfehlen, den archaeoPark im Schnalstal zu besuchen. Ein ganz besonderes, sehr seriös und interessant gestaltetes Freiluftmuseum. Ich habe es HIER beschrieben.